Der Sog der Illusionen

6. Juli 2021

Lean, agil, purpose-driven, selbstorganisiert, zweihändig, rational, emotional, authentisch, innovativ, human, demokratisch, …. und ja nicht mehr hierarchisch oder gar bürokratisch. Aber dennoch berechenbar, steuerbar. Die schöne neue Welt der Organisationen.

Wenn ich als Berater und Manager auf die letzten zwei Jahre zurückblicke, hatte jeder dieser Begriffe seine Story, seine mediale Verbreitung, stets mit dem Versprechen verbunden, nur so könne eine Organisation in VUKA-Zeiten erfolgreich sein. Einige wurden – wie die agile Organisation zum Hype. Ich beobachtete, eher zum medialen Hype! Die gelebten Wirklichkeiten unterscheiden sich doch stark von den beschriebenen und gepriesenen. Entpuppen sich – wenn man nur etwas genauer hinsieht – als des Kaisers neue Kleider, die Organisationen blieben – mehr oder minder –  was und wie sie waren; und oft genug in ihrer nackten Vitalität weiterhin erfolgreich.

Sehnsucht nach Eindeutigkeit, aber: Organisationen sind keine Maschinen

Die Differenz von Versprechen und Erfüllung ist vielen bewusst, wieso dann die vielen Projekte, Zumutungen an Veränderungen? Ich konnte beobachten, dass die Ungewissheit stärker ausgeprägt ist, als zugegeben wird. Es gibt sie leider nicht, die eindeutigen Antworten, wie man in dieser oft nicht zu verstehenden Welt der Widersprüche, der Vielschichtigkeit, der Komplexität ein Unternehmen führen soll. Aber man ersehnt sie. Nach wie vor ist Unsicherheit – auch wenn diese zu guten Beobachtungen und klugen Fragen führt – keine gewünschte Eigenschaft von CEOs. Will man sich nicht in Skepsis oder Resignation verlieren, greift man schon lieber zu verführerischen Angeboten, wie wenig überprüft diese auch sein mögen. Weil sie es gar nicht sein können, => es gibt keinen linearen Zusammenhang zwischen agil und Erfolg, zwischen human und Mitarbeiter:innenzufriedenheit, zwischen selbstorganisiert und begeisterten Kund:innen. Organisationen sind keine Maschinen.

Nicht dass all die oben genannten Eigenschaften nicht sinnvoll wären, im Gegenteil, es geht um die, für das jeweilige Unternehmen, richtige Mischung. Problematisch ist der Fokus auf die EINE Eigenschaft und die Annahme, dass man daraus den EINEN RICHTIGEN WEG ableiten könne. Man preist Agilität und lässt die Frage der Stabilität offen, man verkündet höchste Anpassungs- und Zukunftsfähigkeit und verdächtigt die Frage nach dem Erhaltenswerten, nach dem Lebenswerten der Vergangenheit.

Die Gewissheit der Ungewissheit in komplexen Welten

Manchmal erinnern mich die vielen neuen Konzepte an die Rezepte für einen gesunden, schönen Körper, höchste Beweglichkeit, beste Verdauung. Mit dem – nicht unwesentlichen – Unterschied, man wird selten auf die möglichen oder unerwünschten Nebenwirkungen hingewiesen. An wen soll man sich wenden, wer wären die Ärztinnen oder Apothekerinnen? Berater:innen?

Berater:innen – und da schließe ich mich mit ein –  sind es ja selbst, die in durchaus bester Absicht meinen,  immer wieder neue, noch passendere Konzepte anbieten zu müssen (auch wenn sie manchmal nur alter Wein in neuen Schläuchen sind).

Beipackzettel werden gebraucht, die deutlicher die möglichen Nebenwirkungen beschreiben, noch bevor Untersuchungen (Monate, Jahre später) das benennen, was man als Expert:in für Organisationen wissen könnten.

Stattdessen beteiligen sich viele am Spiel der Illusionen, machen die Widersprüche und Kosten eines Modells unsichtbar und befördern die Hoffnung auf Gewissheiten und Sicherheiten.

Dabei ist in einer komplexen Welt vor allem die Ungewissheit gewiss.

Ungewissheit erfordert das Sich-einlassen auf Entwicklungen, auf das Erproben, auf das Entwickeln und wieder Verwerfen von Konzepten. Solche Prozesse sind der Garant für ein (fast) illusionsloses Neuerfinden und Erhalten eines Unternehmens.   

(Mehr dazu im nächsten Blog – „Achtung Nebenwirkungen!“)