Versuche zu verstehen – eine Reflexion zwischen Zweifel und Zuversicht

11. Februar 2024

Als ich vor ein paar Tagen, in diesem seltsamen Winter wieder mit Fellen auf den Skiern den Aufwärtspuren und meinem Bergführer folgte, spürte ich Ruhe, Gewissheit und Ordnung, erfuhr ich so etwas wie Kontrolle. Kontrolle über meine Gedanken, meinem Körper, meine Kompetenzen, meine Möglichkeiten mich in der Natur zu orientieren. Die Welt schien in Ordnung. In Ordnung? Bei 12Grad plus im Februar und schneefreien Hänge auf der Südseite bis auf 1700 m Seehöhe? Auf unserer Hangseite, der Blick nach vorne, war alles vertraut – so sind Winterhänge. Aber mit einem kurzen Schwenk nach rechts stimmte nichts mehr mit Erwartungen und Erfahrungen überein.  

Zweifel waren plötzlich Begleiter; wonach sollte ich mich ausrichten, wie kann ein Versuch aussehen, Kontrolle – oder zumindest Verstehen – über etwas zu erlangen, über das sich keine Kontrolle erlangen lässt und wo das Verstehen an seine Grenzen gelangt? Solche Gedanken begleiteten mich  bei meinen vielen wunderbaren Touren früher nie. Weil ich sie verdränge, weil die Welt wirklich, eigentlich eine andere war?

Was könnte ich versuchen, um mich nicht vom Unverständlichen, von den täglichen Verlusten an eine Welterinnerung, die ihre Gültigkeit verliert, unterkriegen zu lassen, um mit fröhlichen Herzen sagen zu können „wie wunderbar ist es hier, auf unserem Aufstieg, eigentlich ist es doch schön – das Leben“? Wahrscheinlich ist dieser innere Satz „eigentlich ist es doch schön“ schon die Lösung. Möglicherweise liegt in diesem Versuch eine Falle; um den Schmerz des Verlustes zu vermeiden, vermeidet man die Trauer, die eigentlich „angelegt wäre“ sich mit der Wirklichkeit zu verbinden, das Eigentliche zu sehen, um dessen Schönheit und auch Grausamkeit annehmen zu können. „…annehmen lernen, dass es Dinge im Leben gibt, die wir nicht reparieren, nicht wiedergutmachen, nicht besser oder rückgängig machen können“ (Daniel Schreiber, Zeit der Verluste).

Ich weiß es ja aus meiner Praxis als Berater, in Veränderungsprozessen in Organisationen sollte man seriöser Weise, über Trauer und Trauerrituale nicht hinweg sehen, auch wenn solche Affekte und  Gefühlslagen mit der Grundlogik von Organisationen nicht viel zu tun haben. Das Vermeiden hat seinen Preis, individuell, organisatorisch, inhaltlich.

Rituale – und  Trauerrituale im Besondern – sind Einladungen und Möglichkeiten zugleich, sich auf einen Übergang einzulassen, sich langsam vom nicht mehr Seienden zu verabschieden, um bereit zu werden in das offene Feld zu gehen, im dem nun Neues entstehen, in dem man neue „Eigentlichkeiten“ erkennen kann. Prozesse und auch Sprünge in Unbekanntes.

Trägt dieses Wissen in der aktuellen Situation, in der so (zu) vieles gleichzeitig um- und wegbricht? Noch ist die Welt in der ich leben, in der ich Skitouren gehe, in der ich am Abend in einem stabilen Gasthof beim Wein mich am Tag erfreuen kann, in einer Form der Ordnung, in der ich nicht um mein Überleben bangen muss. Zugleich ist auch in dieser irgendwie heilen Welt bereits zu viel an Gewissheiten verloren gegangen, es wurde uns keine Selektion, keine Priorisierung, keine Entscheidung gegönnt, was zuerst sich zuerst verabschieden, was sich zuerst in uns wandeln darf.
Klar kann ich vorübergehend nur auf den schneebedeckten Hang vor mir schauen, mit Freude durchatmen, aber die schneefreien Hänge, die unpassend warmen Wintertage lassen sich vom Ignorieren nicht beeindrucken. Und die meteorologischen Erklärungen verstärken nur bei mir den Eindruck, dass wir in einer Phase leben (wie die Philosophin Judith Butler meint), in der wir nicht mehr wissen können, was mit uns geschieht.

Der Philosoph Travis Holloway stellt die Frage: „Wie können wir unser Leben am Ende der Welt führen? (…) Wie genießen, lieben, trauern? Worüber reden wir mit unseren Freundinnen und Freunden?“ Genau darüber, würde ich sagen, auch im Wissen, dass wir noch ohne passenden Antworten bleiben müssen, weil wir erst aus der zukünftigen Gegenwart im Rückblick erkennen werden, was diese „passend“ gemacht haben oder nicht.
Andererseits stehen uns Erkenntnisse zur Verfügung, die über die aktuelle Dramatik, über das immer wieder entstehende Ohnmachtsgefühl hinausweisen, die Ohnmachtskompetenz stimulieren, die Zuversicht und praktische Handlungsimpulse anregen können.  
Wahrscheinlich sollte ich mich nicht scheuen statt von Erkenntnis von Weisheit zu sprechen. Gerade jetzt.  Weisheit, die sich aus mehr Quellen als dem Verstehen speist. Weisheit die ahnt, fühlt, denkt, handelt, vertraut.

Weisheit verbindet Liebe und Dankbarkeit.
Dankbarkeit, die nicht nur gedacht, dahin gesagt, sondern tief empfunden wird, erdet und führt vom Ego hinaus zum Wir, zum gesamten Feld.
Und über die Liebe, lasse ich besser Hanna Arendt sprechen, von der ich las, dass sie sich mit Augustinus beschäftigt hat, für den Liebe, Caritas, Nächstenliebe der Sinn des Seins ausmacht. Sie meinte, „Liebe beschere Natalität, sie bringe Neues in die Welt, etwas, das individuell sei, das akzentuierte Individualität erschaffe und das immer wieder ein neuer Anfang der Welt sei. Liebe ist die vorpolitische Bedingung für ein, für unser gemeinsames In-der-Welt-Sein“.

Und damit gewinnt Verstehen eine andere Basis: „Verstehen heißt die Last, die unser Jahrhundert uns auferlegt hat, untersuchen und bewusst ertragen – und zwar in einer Weise, die weder deren Existenz leugnet noch sich unter dem Gewicht duckt. Kurz gesagt: Verstehen heißt, unvoreingenommen und aufmerksam der Wirklichkeit, wie immer sie ausschauen mag, ins Gesicht zu sehen und ihr zu widerstehen.“