Ein Jahr geht zu Ende.

28. Dezember 2023

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mit einem Jahreswechsel, je so viel Hoffnung verbunden habe, es möge viel mehr zu Ende gehen. Damit werde ich nicht alleine sein.
Irgendetwas fehlte mir, um dies zur Kenntnis zu nehmen. Da tauchte die Vermutung auf, dass sich diese Hoffnung nur dann  erfüllen kann, wenn ich mir erlaube, zu sehen, was damit auch verloren geht. Das Neue kann nur wirklich dann seinen Platz einnehmen, wenn man wirklich das Abschließen, das ENDE akzeptiert.
Mir war oft das Silvesterspektakel, die Feuerwerke über der Stadt ein Vergnügen und ich freue mich auch heuer auf diesen mit künstlichen Sternen übersäten Himmel. Zugleich wurde mir bewusst, dass dieses Krachen und Bunte, das Knallen der Champagnerkorken, das Einschwingen mit Donauwalzer, Tango und Discorhythmen nicht nur mit der Freude und der Illusion auf sich neu eröffnenden Möglichkeiten zu tun hat, sondern mit dem Übertönen der Trauer. Erst in diesen Tagen erahne ich recht unmittelbar – obwohl mir die sgn. „Trauerkurve“, die Trauerarbeit bekannt und deren Bedeutung bewusst ist – dass ohne wirkliches Trauern, ohne das Erkennen und Anerkennen, was – auch mit dem gewünschten Ende –  verloren geht, Neues und Schönes nicht seinen wirksamen Platz wirklich einnehmen kann.

Natürlich ist es eine Paradoxie, wenn herbei gesehnte Enden von Kriegen, vom Ende der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen u.a.m. mit dem Erkennen der damit verbundenen Verluste gekoppelt werden sollte. Aber Paradoxien entgeht man nicht, man kann sie nur klug nutzen. D.h., der Prozess zum Frieden, zur Erholung unseres Planeten wird nur dann seine volle Energie entfalten, wenn jeder aus seiner jeweiligen Betroffenheit, Interessenslage, seinen Sehnsuchtsbildern sich erlaubt zu entdecken, wovon trauernd Abschied zu nehmen ist. Trauer-Arbeit eben. Dazu braucht es konkrete Bezüge und Mut diese zu benennen.
Kann das gehen?
Daniel Schreiber zitiert in seinem Buch „Zeit der Verluste“ (Hansa 2023) die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn: „Eva Horn schreibt, dass unsere gegenwärtige Katastrophenahnungen letztlich höchst diffus seien. Ihre Drohung beruhe auf dem so langsamen wie unheimlichen Zusammenbrechen hyperkomplexer Systeme, auf kompliziert miteinander verwobenen Desaster. (…) einer >>Katstrophe ohne Ereignis<<.“
An Ereignissen würde es in diesem Jahr 2023 (und natürlich auch davor) eigentlich nicht fehlen. Das Konkrete scheint so unheimlich, dass es uns (als Gesellschaft und manchmal auch als Individuum) nicht zu erreichen scheint. Zumindest nicht mit der Dynamik, die zu markanten, radikalen Veränderungen führen kann. Wir schützen uns vor der „sozialen Verletzlichkeit“ (Schreiber) und so bekommt die Trauerarbeit – als Vorbedingung für den Wandel – nicht den Platz und die dafür erforderliche Zeit.
Oder anders gefragt, könnte es sein, dass wir uns, trotz unserer kognitiven Erkenntnisse weigern, in den Tiefen unserer Gefühle anzuerkennen, dass alles vergänglich, fluide ist? „Und so ist es schwer, der Welt nachzusehen, dass sie uns ihre Endlichkeit zumutet (auch die des Schönen, Anm. von mir), so schwer, dem Leben zu verzeihen, dass es vorbei geht und, wie alles sein Ende findet“ (Schreiber S 91)

Das mag traurig sein, aber es ist die Trauer-Arbeit, die Depression oder Resignation besiegt und Kraft gibt im fluiden Prozess Ereignisse zu generieren, zumindest zu stimulieren, die man (jeder mit seinen Begriffen) mit Freude, Glück, Zufriedenheit, Inspirierend, Muße, Tiefe, …., bewerten und erinnern kann.