Spaltung erzeugt Spaltung

31. Oktober 2022

Miteinander, Füreinander oder Gegeneinander?

Das waren die Impulsfragen, die am Wissenschaftssymposium von artop – das Beratungs-, Ausbildungs- und Forschungsinstitut an der Humboldt Universität Berlin – intensiv diskutiert wurden.

Was bedeutet es, wenn die Gesellschaft immer wieder als gespalten beschrieben wird? Wie weit trifft diese Generalisierung die aktuellen Problemlagen und hilft sie Lösungen zu entwickeln? Wie weit ist die damit verbundene Dramatisierung gerechtfertigt oder darf man – auch gegen den Mainstream – andere Perspektiven denken? Sind Differenzen nicht schlicht konstitutive Elemente des Miteinander und was ist nun das Neue?

Diesen Fragen gehe ich in meinem Beitrag nach.

Am Anfang war die Unterscheidung …und der Widerspruch

Schon in der Genesis wird die Unterscheidung, das Unterscheiden als Voraussetzung zur Entstehung der Welt grundgelegt und zugleich werden die Unterschiede in ein harmonisches (= widerspruchsfreies) Ganzes eingefügt. Die Utopie des Paradieses. Eine Utopie, die jedoch nur mit dem Verzicht gelebt werden kann, wenn ‚Mensch‘ den Unterschied „nicht erkennt“, das Beobachten nicht zum Verstehen führt, also Folgenlos bleibt. Aber in dieser Utopie ist ein Widerspruch eingepflanzt, der nicht irgendwo am Rand, sondern unübersehbar im Zentrum steht. Der Baum der Erkenntnis. Und jetzt wird es sogar paradox, mit dem Verbot von seinen Früchten zu essen, werden diese Früchte erst interessant (da bräuchte es die Verführung der Schlange gar nicht). Die Aufklärung 1.0 ist vorbereitet. Erkennen wollen, Sehend-werden-wollen wird als anthropologische Sehnsucht des Menschen postuliert und, paradox ausdekliniert, als Sehnsucht, die nicht wissen kann, was man sehen wird, wenn man der Verführung folgt. Erst im Erkennen öffnen sich die Augen für Differenzen und für die Komplexität. Das ist aber nur mit dem Verlust der paradiesischen Harmonie zu haben – und zugleich: „siehe, nun ist Adam einer wie ich …“, sagt nicht irgendein Verwandter, sondern Gott.
Unterschiede sind nicht harmlos, sie sind auch der Nährboden für den Konflikt – Kain erschlägt Abel.

Spaltung war schon immer. Konflikt war schon immer.

Und die Mechanismen der Bewältigung wurden (gesellschaftlich evolutionär) Schritt für Schritt dazu erfunden. Der jeweilige ökonomische gesellschaftliche Kontext „erzeugte“ (prädisponierte) „Konfliktlösungs-Methoden“, die wiederum die Gesellschaft veränderten und sich – erstaunlich stabil und beunruhigend – als Optionen des Handelns bis heute eingeschrieben haben:

Am Beginn „pflegte“ man den Widerspruch zu vernichten. Als man erkannte, das damit auch Ressourcen verloren gehen, wurde die Unterwerfungdes Widerspruchs gelernt und erste Paradoxien entdeckt. Die Unterwerfung bindet Energien der Unterwerfer, sie müssen mit Gegenreaktionen, Wider- und Aufständen, Revolution rechnen. Die Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse führt nur zu neuen Formen der Unterwerfung. Als der Preis dieser Prozesse zu hoch erschien und freie „Athener Bürger“ sich zwar Sklaven halten, aber sich nicht gegenseitig unterwerfen können, erfand man die Delegation nach oben, die Verlagerung des Widerspruchs auf eine höhere Instanz – die Erfindung der Hierarchie und des europäischen Rechtssystems (im Rahmen dieses Artikels verkürze ich und lasse die Auswirkungen des Umbaus der Gesellschaft von der Jäger- und Sammlerkultur zur Ackerbaukultur und die damit verbundene neue Arbeitsteilung und Koordinationserfordernisse durch Zentralisierung und Hierarchisierung aus).

Die Logik des Handels und das damit erforderliche Ver-handeln brachte eine neue Qualität des Miteinanders, den Kompromiss, hervor und damit die Basis, gesellschaftliche Konflikte in demokratischen Formaten zu verhandeln. Auch diese Methoden fanden ihre Grenzen in der Widerspruchsdynamik von Organisationen, deren Grundwidersprüche sich nur begrenzt mit Kompromissen lösen lassen. Die Idee der Dialektik (Hegel: These – Antithese – Synthese) passt(e) da besser zur Bewältigung. Unterwerfung, Delegation und Kompromiss wurden um den Konsens erweitert. Die Widersprüche wurden damit sowohl „entschärft“ als auch als Quelle neuer Ideen entdeckt, die jedoch (unvermeidbar) neue Widersprüche hervor brachten, für die nicht immer genügend Zeit der Klärung zur Verfügung stehen; der Hierarchie geht das Geschäft nicht aus.

Krise war immer, …

… aber mit dem Postulat der >Vernunft und der Idee der Aufklärung< und der Entwicklung der Industriegesellschaft entstand das Narrativ des Ausgleichs. Man muss weiterhin mit Differenzen „kämpfen“, Ungleichheiten ertragen, nun jedoch mit dem optimistischen Versprechen des Ausgleichs, in der Zukunft wird es besser. In Kauf nehmend, dass die Frage, was das „Bessere“ sei, die nächsten Differenzen eröffnen. So konnte der Mangel im Hier und Jetzt erträglich und tw. stolz bewältigt werden. Das Heilsversprechen der Religionen wurde säkularisiert, ohne jedoch, auch im wissenschaftlichen Zeitalter auf Glauben (statt Wissen) und auf Vertrauen (statt Berechenbarkeit) verzichten zu können.

Gilt dieses Versprechen noch?

Grenzverletzungen und der Verlust des Vertrauens

Könnte es sein, dass das Vertrauen in den Ausgleich auf eine bessere Zukunft verloren gegangen ist? Beginnt die Erde, die Natur im Prozess des Zugrundegehens letztlich die Menschen zu überleben, wurde der Problemüberschuss zur Quelle der Ohnmacht, wurde die Idee der Arche Noa – die nur auf anderen Planeten vorstellbar ist – endgültig zur Farce?

Ab wann wurden Unterschiede und Differenzen als Spaltung der Gesellschaft und diese als unerträglich und gefährlich konnotiert?

War die Pandemie Ursache oder Auslöser eines bereits längeren Prozesses?

Aus meiner Beobachtung haben weder soziale Differenzen oder zunehmende ökonomische Einkommens- und Chancenunterschiede Menschen aller sozialen Gruppierungen in den deutschsprachigen Ländern so emotionalisiert (anders als z.B. in Frankreich), wie die wissenschaftlich basierten und politisch motivierten Strategien zur Bewältigung der Coronapandemie. Der Baum der Erkenntnis wurde von nicht wenigen – als das, was uns in der bildenden Kunst anschaulich präsentiert wurde – diffamiert, es ist Teufelszeug.

Zwei Prinzipien auf die sich Vertrauen beziehen konnte, wurde der Boden entzogen: die Basis der Moderne, die Wissenschaft und das Bild einer besseren Zukunft, das Narrativ des Ausgleichs.

Das Narrativ des Ausgleichs rechnet mit der Vernunft der Individuen und – trotzt aller Abhängigkeiten und Interdependenzen – mit deren Autonomie (das Konzept der Freiheit). In „stiller“ gesellschaftlicher Übereinkunft erwartete man, dass sich die Akteur*innen autonom mit neuen Situationen, Spielregeln, neuen Rahmenbedingungen auseinandersetzen und sich mit den damit verbundenen Problemen je und je persönlich einrichten werden. Auch wenn sich die Lebensverhältnisse ändern – so die Annahme – bleiben die unmittelbar persönlich-körperlichen (physisch – psychische) Sphären der Individuen von staatlichen Eingriffen unangetastet.

Nur, wenn man sich persönlich entscheidet, das Gesundheitssystem (Ärzt*innen, Klinken, …) für seine Problemlage zu nutzen, weiß und akzeptiert man, dass die körperliche Grenze (tw. unbefragt) überschritten wird (die Zahnärztin darf einfach im Mund rumtun). Eine autonome Erlaubnis.

Als aber das politische System und die öffentliche Verwaltung nicht nur Nähe und Distanzverhalten regelte, sondern mit der Maskenverordnung auf das Gesicht „zugriff“ und zur Impfung (zum „Gestochen werden“) verpflichten wollte, wurden die gesellschaftlich vereinbarten Grenzen zur körperlichen Autonomie in Frage gestellt (nebenbei wurde die emotionale, körperliche Wirkung der Bilder des täglich gezeigten Stichs falsch eingeschätzt).

Das war – so meine Hypothese – der sgn. Tropfen, der das Fass der vielen Unzumutbarkeiten der Krisen zum Überlaufen brachte. Die neue Bedeutung der „Empfindlichkeit“ konnte weder über die Maßnahmen und die tw. hilflose Kommunikationsstrategie der Politik, noch mit Argumenten der Wissenschaft beruhigt werden. Im Gegenteil. Da viele Menschen nicht bedachten, das Wissenschaft ein Suchprozess ist, der Versuch und Irrtum nicht vermeiden kann, wurden die kurzfristigen Sicherheitserwartungen frustriert. Die Medien erklärten nicht die Logik des Wissenschaftssystems, sondern boten Repräsentant*innen die Bühne für deren Erklärungen und Empfehlungen. Diese wurde dann von sich einander widersprechenden echten Expert*innen und dogmatischen, eitlen Gurus bespielt. So kam das schon länger instabile Grundvertrauen in Institutionen und in das Lösungspotential der Zukunft heftig ins Schlingern.

Fortschreitender Vertrauensverlust und paradoxe Verwerfungen

Vertrauen – und viel weniger Wissen – ist die zentrale gesellschaftliche und individuelle Basis, um in einer komplexen Welt handlungsfähig zu bleiben. Nur Vertrauen verhindert an der generellen Ungewissheit jeglicher Zukunft zu verzweifeln.

Wenn Vertrauen seine stabilisierende Kraft verliert, werden erstaunliche paradoxe Prozesse in Gang gesetzt. Wenn man nicht mehr gewiss sein kann (sein will), dass sich die riskante Investition in Vertrauen lohnt, das Eis der Zukunft dünn erscheint, sucht man (viele) nach anderen Sicherheitsangeboten. Vertrautheit wäre ein solches. Ob diese aus Erfahrung erwächst oder als Suggestion, bleibt zunächst zweitrangig und ungeprüft. Vertrautheit beruhigt durch Eindeutigkeiten, weiß um klare Zuordnungen, Kausalitäten.

So wurde mit der Unterscheidung „Impfbefürworter*innen – Impfgegner*innen“ zwar der soziale Konflikt befeuert, zugleich aber konnte mit einem WIR und die ANDEREN soziale Vertrautheit hergestellt werden. In jeder Gruppe war man „unter seines Gleichen“, teilte man die gleiche Skepsis, bediente man sich der gleichen Projektionen, hatte klare Gegner. In der vertrauten „Blase“ kann man sich der Komplexität, der Undurchschaubarkeit, dem Gefühl von Unlösbarkeit entziehen.

Die gefährdete soziale Ordnung …

…wurde über die einfache Struktur der Spaltung – vorübergehend – wieder hergestellt, die Gefahr des chaotischen Zerfalls gebannt (mit der einfachen Freund/Feind und damit Wahr/Falsch Unterscheidung sind wir ja gut vertraut). Aber jede Blase ist mit der Perspektive anderer Blasen konfrontiert, das kann zur Verfestigung beitragen oder die eigene Position irritieren. Auch Vertrautheit wird befragbar.

Ein Risiko. DennVertrautheit mit Lebenswelten, Natur, Beziehungen, Institutionen, Wissenschaft, Recht, Glaube ist die Daseinsgrundlage des Lebens. Vertrautheit ist die Voraussetzung, um überhaupt vertrauen oder misstrauen (handeln) zu können. Wenn auch dieser Selbstverständlichkeit aktuell mehr und mehr der Boden entzogen wird, tritt an die Stelle von Evidenzen, die keine Vertrautheit mehr erschaffen können, die Suche nach intersubjektiven Gewissheiten und diese können von Verschwörungstheorien gut bedient werden.

Man könnte resignieren, zum Nihilisten werden oder auf Hoffnung und Zuversicht, auf Glaube und Vertrauen setzten

Es ist erstaunlich, auf der einen, der dunklen Seite erleben wir die Unerträglichkeit der sich überlappenden und wechselseitig sich verstärkenden Krisen und auf der anderen, der hellen Seite (von der dunklen inspiriert) gewinnen die Kraft der Vernunft, die Überzeugung Konflikte sind zu bewältigen, die Suche nach Lösungen, der Glaube an einen Ausgleich und an neue Erkenntnisse ihren Platz und finden Resonanz.

Auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass man sich auf die Erfahrungen der Vergangenheiten nicht mehr verlassen kann und es noch ungewisser geworden ist, von Zukünften ausgehen zu können, von denen wir früher hoffen konnten, dass dort Krisenlösungen zu vermuten sind, gibt es Zuversicht.
Es werden Pläne geschmiedet, Kinder geboren, Häuser gebaut,…

Der Wunsch zu über-leben oder die immanente Kraft des Lebens nährt weiterhin den Glauben, dass sich am Ende doch alles fügt, durch vernünftiges, konsistentes Handeln, durch kausale Mechanismen, durch angemessene Einsichten und durch kognitive Kontrolle.
Die „Autopoiese des Lebens“ ist stärker als jedes Narrativ der Verzweiflung.

Ungewissheit ist dann nicht mehr das Problem, sondern wird als Lösungspotenzial erkannt und genutzt.

Lebenswille und Lebenslust sind der praktisch wirksame Gegenentwurf zu den gleichzeitig beschworenen apokalyptischen und apodiktischen Urteilen, zu den verunsichernden Mehrdeutigkeiten.

Was bedeutet das praktisch?

Die so genannte Spaltung der Gesellschaft ist eher eine eingängige Beschreibung als ein verlässlicher Befund. Es verweist bloß auf zu beobachtenden unterschiedlichen Perspektiven. Nur, was ist so neu an einer differenzierten, inhomogenen Gesellschaft und was ist so bedrohlich? Ist nicht das Homogene, die „eine Volksgemeinschaft“, das „eine System“, jegliches „Mono“ die eigentliche Gefahr?

Vielleicht sind Journalist*innen und andere Erklärer der Welt einfach erschrocken, entdecken zu müssen, dass die bekannten Klassenkonflikte nach wie vor wirksam sind, dass das „Links-Rechts-Schema“ nach wie vor unterschiedliche Lösungsansätze und deren Bewertung antreibt. Das Nach-wie-vor verweist auf Vertrautes. Mit dieser Vertrautheit könnte man operieren, ist doch die „Arbeit“ mit dieser Unterscheidung – ohne von Spaltung reden zu müssen – die tägliche gesellschaftliche Praxis in Parlamenten, Verbänden, Talkshows, runden Tischen. Man kennt die Unterschiede und man hat gelernt, sich zu verständigen, es gibt noch immer Dialogbereitschaft (in Österreich funktioniert noch immer die sgn. Sozialpartnerschaft, der Ort, wo Arbeit und Kapital nach Kompromissen suchen). Statt jenen Minderheiten, die sich und andere ausgrenzen, eine kommunikative Bühne zu geben, statt die Dialogunwilligkeit immer wieder zu betonen, statt Ressentiments „zu bewirtschaften“, könnten wir auf die gelingenden Dialoge fokussieren und diese weiterentwickeln.

Der Unterschied ist das wirklich Spannende, Inspirierende. Es haben genügend „Rechte und Linke“ und andere sich unterscheidende Gruppierungen verstanden, dass wir es mit einem mächtigen Dritten zu tun haben, dessen Feedback unbeeindruckt von sozialen Differenzen einfach wirkt. Die Erde, die Natur, die Arten, das Klima. Auch wenn die Lösungsideen zwischen Individualisieren, Ausschließen, Konkurrenz vs. Solidarität, Verbundenheit, Kooperation im ersten Schritt zu divergent erscheinen mögen, ermöglichen Dialoge, die interessiert auch den „feindlichen“ Vorstellungen etwas abgewinnen können, einen Ideenüberschuss; ein kreatives Pendant zum Problemüberschuss.

Ich bin überzeugt, mit einem anderen Blick auf die gesellschaftliche Dynamik und einer anderen Bewertung wird unsere soziale Intelligenz Dialogformate, neue Strukturen und Regelmechanismen der Konfliktaustragung (dazu gehören durchaus Protestbewegungen), kraftvolle Formen der Kommunikation und Kooperation hervorbringen.
Imagine!