Paradoxie der Unbeherrschbarkeit

3. März 2020

„Wir  – Menschen, Familien, Organisation, Institutionen – wurden noch nie in der Moderne so unmittelbar und umfassend mit der Eigendynamik von Natur konfrontiert. Noch dazu in einer für uns im Alltag unsichtbaren Größe, die sich nicht um Grenzen schert.
Es wäre schön, könnten wir aus einer räumlichen und zeitlichen Distanz verstehen, was das ist, was wir gerade erleben. Aber das >Hier und Jetzt< konfrontiert uns sehr konkret mit unseren Gefühle, Gedanken, Lösungsversuche in der Mitte einer theoretisch alten und sich praktisch immer wieder meldenden Paradoxie.
Der Paradoxie der „Beherrschbarkeit des Unbeherrschbaren“.  (Klimakrise, Finanzkrise, politische und gesellschaftliche Krisen,…)
Der Unterschied, der jetzt einen Unterschied macht, ist die damit verbundene konkrete Bedrohung jedes Einzelnen als Mensch, als Individuum.
Diese körperliche Betroffenheit, macht selbst „unzumutbare“ Maßnahmen, zumutbar. Eine neue Vernunft greift um sich, bei der ein politisches Tabu „nicht wirklich zu wissen, wissen zu können, wie einzelne Maßnahmen wirken werden“ gebrochen werden musste, um glaubwürdig zu sein. Und siehe – es wirkt.
Das ist die große Chance, daraus könnten wir für andere große Themen wie Klimakrise viel lernen. „

Herbert Schober-Ehmer

Wir lassen diese Paradoxie selbst zu Wort kommen, als Anregung, mit praktischen Hinweisen am Ende.

Hier bin ich wieder, ich war auch nie weg. ICH, das ist in diesem Fall die Person gewordene Paradoxie von Beherrschbarkeit vs. Unbeherrschbarkeit.

Ich, die Paradoxie, will erst gar nicht beim Corona Virus, der Klimakrise oder dem Großversuch der K.I. beginnen, sondern an die täglichen kleinen Erfahrungen erinnern, die zeigen, wie schnell Ihr Euch in diesem (also meinem) Widerspruch, oder im Wunsch, das eher Unbeherrschbare in den Griff zu kriegen, verheddert. Nur ein kleines Beispiel: Ihr habt ein neues Motivationsinstrument eingesetzt, das engagierte Mitarbeit bei der Umsetzung der neuen Strategie versprach. , Alle haben so getan, als würden sie mit Begeisterung den neuen Weg mitgehen und dann stellt sich unterwegs heraus, 60% können das gar nicht verstehen und haben sich innerlich abgekoppelt. Ihr seid dem „Als- ob-Verhalten“ auf den Leim gegangen.

Paradoxien gibt es schon immer

Ich – die Paradoxie – bin ein historischer Fakt, kein Fake. Philosophen meinen, ich bin eine ‚anthropologische Konstante‘. Obwohl Ihr mich seit Anbeginn der Menschheit kennt, seid Ihr immer wieder überrascht und manchmal auch überfordert, um mit mir zu Rande zu kommen – aber so ist das mit Paradoxien. Im Konkreten gibt es das unbeherrschbare Gegenüber: die Natur, das Feuer, die Spezies Mensch, …. Um zu überleben, muss dieses irgendwie beherrscht werden. Beherrschen des Nicht-beherrschbaren? Dieses Dilemma ist nicht auflösbar, Eure Kreativität ist immer wieder gefragt.

Ihr habt Beherrschbarkeit zur Voraussetzung von Sicherheit gemacht. Das ist mehr als verständlich. Ihr braucht ein Mindestmaß an Gewissheiten, um Euch in die Welt hinaus zu wagen, um Euch auf das Unvorhersehbare, Unbeherrschbare einzulassen. Ihr habt dabei auch entdeckt, dass es letztlich nur in diesem Spannungsfeld so richtig aufregend, herausfordernd, inspirierend ist. Psychologen sprechen von der Angst-Lust.

Das Unbeherrschbare ist nicht auszuschließen, das bleibt ein Ärgernis, das hat Euch zu vielen Formen der Bewältigung geführt. Ihr habt Vorstellungen, Erzählungen, religiöse oder wissenschaftliche Erklärungen, Erfindungen und jede Menge Tipps und Tricks entwickelt, die beweisen sollten, die Welt ist per se beherrschbar.

Die Vertreibung aus dem Paradies

Der Paradiesmythos z.B. ist so eine Erzählung. Da gäbe es pure Harmonie, wenn nicht Gott selbst das Unbeherrschbare, in der Gestalt des gefallenen Lichtträgers, des Luzifers, erfahren musste. Wahrscheinlich muss man davon ausgehen, dass er sich selbst als Widerspruchswesen erschaffen hat, aber so genau weiß ich das nicht. So kam ich – die Paradoxie – ins Spiel. Eine Zeit lang – so das Narrativ – gab es zwar Unterschiede, aber keine Differenzen in der Natur, und schon gar nicht zwischen Mensch und Natur. Bis Luzifer in der Gestalt der Schlange Erkenntnis versprach. Erkennen heißt Differenzen und Widersprüche sehen. Erst jetzt werden sich Eva und Adam des Ausgeliefertseins bewusst. Hiermit kam Freiheit und die damit untrennbar verbundene Entscheidung und Verantwortung ins Geschehen der Menschen, denen zusätzlich der Job übertragen wurde, „macht Euch die Erde Untertan“ (das ist ein  zentraler Unterschied zu Fernöstlichen Narrativen, des permanenten Kreislaufes von Werden und Vergehen).  

Ihr Menschen musstet Euch von da an mit mir herumschlagen. Zugleich meint Ihr, um diesen göttlichen Auftrag erfüllen zu können, müsstet Ihr Euch nun stets um Beherrschbarkeit kümmern. So wurde sie zu Eurem Selbstverständnis und zum Selbstverständlichen. Und Ihr denkt, wenn sich das Unbeherrschbare meldet, ist das bloß ein Zeichen, dass hier noch etwas auf seine Beherrschung wartet.
Mich, in meiner Widersprüchlichkeit habt Ihr dabei übersehen. Aber wie ihr wisst, ist das mit paradoxen Wesen auf Dauer nicht möglich. 

Viele Wissenschaften haben schon länger das lineare Kausalitätskonzept (die Welt als Uhrwerk, als Maschine) als Voraussetzung des Berechnens und Beherrschens um das Relative, um das Relationale und Zirkuläre, um die Quantenlogik erweitert. Die Betriebswirtschaften sehen sich mit der VUKA-Welt  konfrontiert und rationale, stabile Organisationen sollen agil werden, das Gegenteil von Berechenbarkeit.

Als Paradoxie empfehle ich Euch daher die Reintegration des Unbeherrschbaren.

Ihr solltet tatsächlich um ein neues Verständnis und Verhältnis der zwei Pole ringen. Wenn Ihr meinen seltsamen Charakter versteht, gelingt das leichter. Goethe hat mich im Faust auf die Ebene der Weltliteratur gehoben, Ihr kennt das: 

„Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“
„Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht;
denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht“
(Das kam später bei Schumpeter´s  „Theorie der Wirtschaftlichen Entwicklung“ wieder)

Wer ich eigentlich bin

Als Paradoxie bestehe ich aus Widersprüchen, wo eine Seite die andere eigentlich ausschließt, die aber zugleich ohne die andere nicht zu denken ist, die sogar aufeinander wechselseitig verweisen. Und keine der Seiten ist besser oder richtiger als die andere.
Und weil Ihr mich nicht beherrschen könnt (sic!), braucht Ihr einen kreativen, pragmatischen und spielerischen (d.h. einen neugierig übenden), handelnden Umgang mit mir.

Im Englischen spricht man von  uncontrollability vs. controllability. Klar geht es um Kontrolle, aber die beiden deutschen Begriffe der Beherrschbarkeit vs. Unbeherrschbarkeit machen für mich die besondere Dynamik, die Kraft, ja Dramatik deutlicher. Sie verweisen auf die Differenz von Macht und Ohnmacht, auf das Gesichert-sein oder Ausgeliefert-sein, sie verweisen auf die permanent anwesende Grenze, auf Risiken, Gefahren, auf den Widerspruch von Leben und Tod. (Das würde mir bei der Differenz von Kontrollierbarkeit vs. Unkontrollierbarkeit nicht sofort einfallen.)

Was wäre zu tun?

Da ich bin, und da ich weder auflösbar noch unsichtbar zu machen bin (das zeige ich Euch täglich – auch wenn manche es nicht sehen wollen), empfehle ich Euch die Widersprüche zu versöhnen.

  1. Der erste Schritt dazu bedeutet rational und emotional anzuerkennen, dass alle lebenden Systeme (Natur, Menschen, Familien, die Lebenspartnerin, der Tennispartner, ein Auditorium, Teams, Organisationen, Gesellschaft, die eigenen Gefühle,…) einer dynamischen, komplexen, zirkulären, überraschenden Logik folgen, freut Euch einfach, dass alles Nichtmaschinelle in seinem Kern unbeherrschbar ist. Es ist das Leben und Leben folgt nicht der Maschinenlogik, sonder einem evolutionären Prozess. 
  2. Darauf aufbauend könnt Ihr im zweiten Schritt überlegen, welche Formen der Kontrolle einer halbwegs „stimmigen“ funktionalen Beruhigung (dem Sicherheitsgefühl) dienen und wo Ihr es mit hoch riskanten Illusionen, mit allen ihren destruktiven Wirkungen und unbekannten Nebenwirkungen zu tun habt.
  3. Nutzt Eure Fähigkeiten und Erfahrungen mit denen es bisher gelungen ist, das Unbeherrschbare  „einzuhegen“ und über das Entdecken von Muster und Wahrscheinlichkeiten besser zu verstehen.

Hier einige Empfehlungen, wie Ihr mit mir spielen – im besten Sinne – und experimentieren könnt:

  • Ersetzt die generalisierende, zu einfache Unterscheidung „Beherrschbarkeit vs. Nichtbeherrschbarkeit“ durch mehrere praktische, gut beobachtbare Unterscheidungen.
    Was konkret ist z.b. in einem Meeting, in einem Produktionsprozess, in einem Gespräch mit einem Kunden, in der Strategie, auf welchen Märkten nicht zu beherrschen und über welche Formen der Kommunikation, Kooperation, dem Nutzen anderer Perspektiven kann inhaltlich, sozial, zeitlich Sicherheit gewonnen werden?
  • Beobachtet staunend das Geschehen, statt zu schnell zu bewerten. Achtet darauf, was sich je und je ereignet, wie Ereignisse auf Ereignisse folgen, auf welche Handlung welche Handlung folgt und welche nicht. Das hilft Muster zu erkennen und Zusammenhänge zu entdecken.
  • Verabschiedet Euch von der Suche, wie Ihr doch noch das >unbeherrschbar Andere< kontrollieren, von außen verändern könnt. Das erspart Widerstand und Abwehr und eröffnet Euch selbst einen Zugang zum, ein Verstehen des Anderen.
  • Aus dem Verstehen, entwickelt in Dialogen, könnt Ihr gemeinsam neue Ideen in meinem Feld der Widersprüche kreieren. Statt nach Perfektion zu streben, wagt lieber kluge Experimente, entwickelt Prototypen, um daraus zu lernen.
  • Seid achtsam, aber nicht zaghaft, ich bin über Handlungen und über das Beobachten, wie sich diese aus- und zurück wirken, durchaus „gefügig“ zu machen. Und akzeptiert, dass man auch mit dem Dissens leben muss.
  • Ich, die Paradoxie, bin nicht wirklich kompliziert, sondern eher recht komplex. Wenn Ihr Euch auf diese – letztlich schwer zu durchschauende  –  Dynamik einlässt, werden jene Situationspotenziale sichtbar, die der jeweiligen Dynamik inne wohnen.