Verzichten: Selbstverständlichkeit und Zumutung

5. August 2021

Zwei Kontexte – zwei divergierende Bewertungen und Mythen

Verzicht als Held:innenerzählung, Kontext: Olympische Spiele

In den Interviews mit Sportlerrinnen und Sportlern kann man erfahren, wie sehr sich VERZICHT gelohnt hat, fast unabhängig von Medaillengewinnen (oder ob man zumindest nicht noch auf mehr hätte verzichten sollen).
Kein Sieg, kein einfaches olympisches Dabeisein ohne Verzicht. Kein Glückgefühl ohne die Verneigung vor der eigenen Verzichtsbereitschaft. (Magdalena Lobnig – Bronzemedaille Ruder Einer: „Ich bin einfach so froh, dass ich die Bestätigung habe. Für die Geduld, all die vielen Stunden, die ich da reingesteckt habe, für den Verzicht.“)

Das Heroisieren des Verzichtens gehört zur täglichen Berichterstattung. Auf der Liste des Verzichtens findet man: Zusammensein mit dem Partner, der Partnerin; gemütliche, trainingsfreie Wochenenden; fröhliches Essen und jedweder Alkohol; Ausüben einer anderen Sportart; Ausschlafen am Wochenende, ein Sonntags-Nickerchen, wenn es draußen regnet; ein Ausbildungs- und Karriereschritt; …
Nur für diese eine Performance, für diese hundertstel Sekunde, diesen einen Wurf, den einen Sprung, … hat sich all dieser Verzicht (incl. der Investitionen) gelohnt.
Der Mensch, ein homo öconomicus?? In diesem Kontext wohl kaum. Andere Motive, persönliche Ziele, andere als rationale Kalküle sind hier wirkmächtig.

Verzicht als Bedrohungsszenario, Kontext: Klimakrise im Anthropozän

Das soeben skizzierte heroische Narrativ der Verzichtsbereitschaft kann – bis auf Ausnahmen – in diesem Kontext wie selbstverständlich ganz anders präsentiert werden. Verzicht wird zum bedrohlichen Dämon („grüne Diktatur – Klimawahn“), zur lächerlichen Figur („kein Zurück in die Steinzeit“), zum sarkastischen Stereotyp („Grüne sind hysterisch und depressiv“), zur naiven Laienhaltung („Wirtschaft folgt anderen Gesetzmäßigkeiten“).

Auch wenn (nahezu) alle wissen, dass es ja nur um die Rettung unserer Lebensgrundlagen (!), der Lebensqualität, der Zukunft für die nächsten Generationen und nicht um nächste Weltmeisterschaften geht, verdrehen sich die Bewertungen in einer kaum fasslichen Weise.

Die Entscheidung, ein bestimmtes Ziel erreichen zu wollen, hat immer Auswirkungen auf Lebensgewohnheiten. Man lässt jenes bleiben, um dieses erreichen zu können – ohne gewiss zu sein, dass dieses auch tatsächlich eintreten wird(!). Man wagt es einfach.

Im Kontext Klimakrise werden jedoch immer wieder neue Beweise über die Wirksamkeit von Maßnahmen gefordert. Man wartet einfach weiterhin ab.

Überlegungen in der Sackgasse

Man könnte fragen, was ist los mit unserem Denken, mit unseren Mindsets, wenn die Reduktion von Geschwindigkeiten um einige km/h Empörungsrelevant ist, wenn ein reduzierter Fleischkonsum die Identität der Esskultur in Frage stellt, andere Formen des Reises als Freiheitsbeschränkung erlebt und ein anderes Energiekonzept die Wirtschaft zerstören wird.

Folgte man dieser Logik, müsste man all jene Sportlerinnen und Sportler (auch die vielen Millionen, die nicht bei Großereignissen antreten und dennoch trainieren) für Idiot:innen erklären, verzichten sie doch, um andere glückhafte Erfahrungen machen zu können. Aber diese Überlegungen führen in eine Sackgasse.

Mutige, schöne, lustvolle Vorstellungen sind gefragt

Verzicht ist eine Folgeerscheinung und kein Ziel an sich (auch dazu gibt es Ausnahmen).

Diese intrinsische Kraft wird nur dann – auch kollektiv – entstehen, wenn das Ziel, eine andere Zukunft, eine andere Welt, eine andere Gesellschaft, wirklich VORSTELLBAR und besonders attraktiv ist (der „Nordstern“ alleine ist zu wenig). Das Purpose-Konzept operiert mit dieser Koppelung von Unternehmens-Sinn und individueller Sinn-Erfüllung. Auch wenn man mit Recht skeptisch beobachten darf, wann diese Koppelung sektenhafte Tendenzen zeigt, kann man für die Bewältigung der Klimakrise davon lernen. Dauerkrisen führen zur Erschöpfung.

Mutige, faszinierende, inspirierende Bilder einer Zukunft aktivieren, mobilisieren, faszinieren. Dann braucht man nicht das Verzichten predigen – die Ideen, was nicht mehr passt, kommen hier von selbst.