Das Schicksal von Kassandra. Oder: Wie schafft man es, nicht verstanden zu werden?
3. November 2013
„Alles im Himmel ist bedrohlich! Trau meiner Stimme“ so lässt Hector Berlioz Kassandra im ersten Akt seiner Oper >Les Troyens< (zu der er selbst das Libretto verfasst hat) zu ihrem Geliebten Choröbus sprechen. Es war dieser und einige der darauf folgenden Sätze, die mich bei einem neuerlichen Konzertbesuch zu den folgenden Überlegungen angeregt haben. Musikwissenschaftler sind sich einig, dass Berlioz keine politische Botschaft mit seinem Werk verbunden hat. Das erlaubt mir, den ersten Teil der Oper als ein Paradebeispiel misslingender Kommunikation zu lesen; besser zu hören.
Beide Seiten (Kassandra und Choröbus) tragen kräftig das Ihre zu den bekannten Folgewirkungen bei. Die Dialoge und Arien kann man als einen sich konsequent aufschaukelnden Prozess des Missverstehens hören. So wie Kassandra ihre Expertise kommuniziert, öffnet sie nicht den Blick auf die Gefahr, die vom Geschenk der Griechen ausgeht. Im Gegenteil, sie verstärkt die Interpretation der von der Belagerung erschöpften Trojaner, das Pferd als Demutsgeste der Griechen willkommen zu heißen. Einige Textbeispiele (hört man durch den Pathos der Sprache „hindurch“) könnten durchaus an Kommunikationsmuster aus dem Unternehmensalltag erinnern:
Kassandra: „Trau meiner Stimme: Aus ihr spricht jener grausame Gott, der versessen ist, uns ins Verderben zu bringen. (…) ich sehe das Ausmaß des Unheils sich gegen uns alle entfesseln! Es wird über Troja hereinbrechen!“
Und wie reagiert Choröbus? Fragt er nach, um diese Beschwörung zu konkretisieren oder um zu erfahren, woher sie ihre Einschätzungen hat? Natürlich nicht (sonst hätte diese Tragödie ja einen anderen Verlauf genommen), er hat sofort die Diagnose parat: geistige Verwirrung.
„Du arme, verirrte Seele! Komm zu dir (…). Lass das Vorhersagen, dann verschwindet die Angst, (…) Lass einen süßen Strahl der Hoffnung in dein Herz ein“ Kommt das bekannt vor? Und Kassandra – wissend um ihre Expertise – meint, noch eines drauflegen zu müssen:
„Schon kreist der Tod in den Lüften…Ich sah das unheilvolle Aufblitzen seines kalten, mordlüsternen Blicks.“
Alles Weitere kann man sich vorstellen: Jedes der folgenden Ereignisse wird nach der eigenen „Weltkonstruktion“ interpretiert. Ein letztes Zitat – Rezitativ von Äneas:
„Laokoon, der im Machwerk der Griechen eine niederträchtige Tücke sieht (…), hetzte damit das wankelmütige Volk auf, es anzuzünden. Da nahen (…) zwei riesige Schlangen dem Strand, stürzen auf den Priester, umschlingen ihn mit ihren schrecklichen Knoten….“
Wie sollten die, den Triumpf schon nahe sehenden, Trojaner solche Zeichenanders deuten, als „Skepsis ist nicht angebracht“. Was soll da Kassandra weiter dagegen ausrichten? Die kommunikativen Weichen sind gestellt. Das Ende ist bekannt.
Man möge seine Schlüsse ziehen.
Das Orchester und Ensemblemitglieder des Mariinski Theater St. Petersburg haben dieses selten gespielte Werk konzertant im Wiener Konzerthaus zu Aufführung gebracht.