Mein literarischer Sommer und die Kunst von Führung und Beratung

10. September 2024

Führung ist eine Kunst, diese Behauptung streue ich schon seit vielen Jahren in meinen Coachings oder Seminaren immer wieder ein und zitiere dann gerne Fritz Simon. Er spricht von der Hexen-Kunst und bezieht sich dabei auf das althochdeutsche Hagazussa für Hexe – das Wesen, das auf dem Zaun, dem Hag sitzt. Das meint die Fähigkeit mit Paradoxien, mit unterschiedlichen, sich auch widersprechenden Welten umgehen zu können. Und dazu sollte man AUF DEM Zaun sitzen können, um aus der Position des Dazwischen handeln zu können; an der Grenze zwischen Innen und Außen, dem Einen und dem Anderen vermitteln zu können, sowohl zu einem Team zu gehören als auch in Distanz zu diesem zu agieren. Wahrlich eine Kunst.

Wenn Führung eine Kunst ist, dann darf auch Beratung – insbesondere Prozessberatung – ein künstlerisches Verständnis annehmen. Das bedeutet nicht, die nüchterne, logische, wissenschaftliche Seite dieser Disziplinen zu ignorieren. Im Gegenteil, es ist eine Erweiterung, die das Leben – also die Praxis – selbst erfunden oder erkannt hat. Nicht die Gleichsetzung (Führung, Beratung = Kunst) ist das Spannende, sondern das Beobachten der einen Seite, die der Kunst, eröffnet neue Perspektiven für die andere Seite, die der Führung und Beratung.

Mein Lesesommer hat mich dazu inspiriert, zu erforschen, was wir von Literatur für die Gestaltung – oder, wie ich es nenne, für die Inszenierung – von Führung und Beratung erfahren können.

Stellen Sie sich vor, wir könnten das Lesen eines Textes interaktiv gestalten. Diese Idee entspringt einer meiner Leseerfahrungen: Ein Roman oder ein Essay fesselt mich besonders dann, wenn ich das Gefühl habe, ich stehe mit dem Autor oder den Protagonistinnen in einem Dialog, ich bin mit ihnen gemeinsam auf deren Reise.

Da dieser Text keine Erzählung, sondern eine Reflexion ist, bei der sich diese besondere Beziehung leicht herstellen lässt, lade ich Sie zu einem Gedankenexperiment ein: Ersetzen Sie jedes Mal, wenn ich von Roman, Geschichte oder Theater spreche, diese Begriffe durch „Führung“ oder „Beratung“. Welche eigenen Assoziationen und Interpretationen entstehen dann, wie Sie Ihre Inszenierung von Führung und Beratung gestalten könnten?

Lassen Sie uns dieses Experiment gleich beginnen:
Nach meinen Kriterien werde ich in einem guten Roman [von guter Führung] schon auf den ersten Seiten [den ersten Schritten], manchmal mit dem ersten Satz, überrascht. Überrascht von dem Fremden und dann wieder doch Bekannten, fast Vertrauten. Erstaunt stelle ich fest, wie Neugier und Lust entstehen, mich mit den Figuren und der Erzählerin auf das Abenteuer deren Lebens einzulassen? (Entstehen Bilder zur Gestaltung des Beginns einer Beratungs- oder Führungsbeziehung? Im Weiteren lasse ich die eckigen Klammern weg.)

Ungewissheit und Entscheidung

In Organisationen sind Führungsbeziehungen meist strukturell vorgegeben, während sich Akteurinnen und Akteure in der Beratung bewusst füreinander entscheiden dürfen, müssen. Wenn die Entscheidung für einen Roman auch nicht so lebensentscheidend sein wird, fühlt es sich doch ähnlich an: Das Gegenüber ist nur ein Titel, der Name eines Autors, einer Autorin, ein Buchcover. Wie ich diese Informationen bewerte, einschätze, liegt ganz bei mir, sind meine „Konstruktionen“. Ich bin mit einer jener echten Entscheidungen konfrontiert, bei der die Entscheidung das Handeln (Buch kaufen oder nicht) ermöglicht, aber das Unbekannte nicht auflöst. Ich muss mich  auf das Risiko einlassen, ohne wissen zu können, ob das eine Fahrt in der Geisterbahn, auf der Hochschaubahn, mit einem Vergnügungszug oder alles davon wird. Es gibt keine Gewissheiten was nun geschehen wird (nur der Klappentext lässt etwas erahnen), es gibt keine Messgrößen, außer der Seitenanzahl, woraus ich ableiten kann, worauf ich mich da einlassen werde.[1] Um diese Ungewissheit etwas abzumildern, folge ich meist Rezensionen in meinem Lieblingsprintmedium oder den Empfehlungen von Freunden, deren Geschmack ich kenne (nicht unbedingt teile; erst der Unterschied eröffnet ja die Chance auf neue Perspektiven). Damit lindere ich den „Aufprall“ nach dem vielleicht zu kühnen Sprung in fremde Welten etwas ab. Ich will ja nicht nur verunsichert, sondern auch in einigen Vorurteilen bestätigt und auf die eigenen Irrtümer nur sanft hingewiesen werden.

Die paradoxen Anziehungskräfte

Die besten Romane – jedenfalls nach meinem Geschmack – überraschen, stören meine Gewissheiten, aber eröffnen neue Perspektiven, fördern das Zweifeln und Bringen mich zum Nachdenken. Sie halten dann die Spannung aufrecht, wenn ich eine Balance finde zwischen dem Verstehen des Geschehens und der Erwartung, dass die nächsten Seiten neue, überraschende Wendungen bringen mögen. Ich lese weiter, weil ich gespannt bin, was als Nächstes passiert und wie sich das Bild verändert und die Erzählung neue Facetten mit neuen Licht-Schatten-Spielen hervorbringt.

Wenn wir in Gesprächen sagen, „das ist spannend“, deutet das oft auf ein (noch) Nicht-Wissen hin, und genau dort – im Unbekannten, im Unvorhersehbaren, wo Routinen nicht greifen – zieht uns ein Roman in seinen Bann. Dann wird das Lesen zu einer Entdeckungsreise, bei der wir uns selbst neu erleben können.

Zugegeben, die realen Herausforderungen des Lebens sind manchmal zu spannend, zu unvorhersehbar, dass man versucht sein kann, auf diese literarische „Kunst“ zu verzichten. Aber gerade dann öffnet Literatur hin zu einem Freiraum, zu einem gedanklichen und emotionalen Probehandeln, zu einem „Was wäre, wenn…?“.

Die Magie der Sprache

Ein Roman fasziniert mich nicht nur durch seinen Aufbau, seine Handlungsstränge, sondern auch durch die Sprache. Es sind die Worte, die Komposition des Aneinanderreihens, die Metaphern, die Rhythmen, die in mir neue Welten schaffen. Metaphern sind wahre „Weltenerschafferinnen“, die festgefahrene Gedanken aufbrechen und neue Räume öffnen können. Und weil sie das vermögen, können sie bei mir Schwindel und Unlustgefühle auslösen, wenn sie zu üppig, mit zu viel Lyrik das Geschehen bestimmen. Dann verstellen sie die Beziehung zu den Figuren, blockieren das Eintauchen in jene Welt, die durch den Roman und meiner Rezeption – meinem Mitleiden, Mitfreuen, Mitverzweifeln, Mitaufatmen – entstehen. Obwohl ich im Schatten eines Baumes oder in einem gemütlichen Café sitze und mich nahezu nicht von der Stelle bewege, verführt mich die Sprache mit allen Sinnen in andere Welten, aus denen ich schließlich verändert in die Realität zurück kehre.

Und ich habe wieder entdeckt, dass ein guter Roman mich daran erinnert, dass einfache Erklärungen und kitschige Enden langweilig sind. Es ist die Komplexität, die Ambiguität, die mich fesselt. Das Leben selbst ist voller Mehrdeutigkeiten und Paradoxien – und gerade das macht es spannend.

Die Schönheit des Unklaren

Mich begeistern Autorinnen und Autoren, die es wagen, mich mit Andeutungen, Leerstellen und offenen Enden herauszufordern. Sie geben mir Raum, meine eigenen Gedanken und Lösungen zu finden. Das unterscheidet Literatur von einem Ratgeberbuch. Romane würdigen meine Einzigartigkeit, meine Kreativität. Sie zeigen nur Möglichkeiten auf, mit Widersprüchen und Ambivalenzen umzugehen, die oft in Ratgeberbüchern ausgeklammert werden. Wirklich gute Geschichten kommen nicht ohne Bösewichte, Antagonisten und irritierende Nebenfiguren aus. Nur das „Korrekte“ zu zeigen, wäre langweilig – und es ist oft der Kontrast zum „Inkorrekten“, der das Spannende hervorbringt.

Widersprüche sind der Motor des Lebens. Sie bringen uns zum Nachdenken, zum Perspektivwechsel, zur Veränderung. Wenn Ambivalenzen und Widersprüche ausgeblendet werden und alles eindeutig scheint (denken Sie an Othello, Romeo und Julia…), befinden wir uns schnell in einer Sackgasse, wie in einer griechischen Tragödie. Shakespeare zeigt uns: Das unvermeidliche Scheitern liegt oft in starren Denkmustern und dem Beharren auf Machtstrukturen.

Die Leichtigkeit der Komödie

Ich bin immer wieder erstaunt, wie die Komödie schwierige Situationen mit Leichtigkeit und Humor meistert. Mit einer Prise Ironie (die auch uns selbst distanziert betrachten lässt) werden festgefahrene Muster aufgebrochen, und plötzlich wird alles möglich. Die überraschendsten Wendungen entstehen oft aus einem Moment der Leichtigkeit.

Mein Fazit

Geschichten – ob in Romanen, Novellen oder Essays – laden mich ein, mit den Figuren auf Reisen zu gehen. Sie schulen meine Empathie und eröffnen mir neue Blickwinkel. Übertragen auf Führung und Beratung bedeutet das: Empathie und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, sind Schlüssel, um Vertrauen zu schaffen und nachhaltige Veränderungen zu bewirken.

Führung und Beratung als Kunst der Inszenierung zu verstehen, eröffnet neue Möglichkeiten jenseits des Rationalen. Es ist eine Einladung, Unsicherheiten zuzulassen und die Schönheit des Unvorhersehbaren zu schätzen – ähnlich wie in einem literarischen Werk, das uns mit seiner Sprache und seinen Figuren in den Bann zieht. Wie die Kunst uns lehrt, in Metaphern zu denken und Ambiguitäten zu schätzen, können wir in unserer Praxis die Mehrdeutigkeit des Lebens umarmen und kreative Lösungen für komplexe Herausforderungen finden.

Was wäre, wenn Führung und Beratung nicht nur Theorie und Handwerk, sondern auch Kunst wären?

Schreiben Sie mir gerne Ihre Gedanken und Bilder dazu!


[1] Auch wenn manche Leser:innen, weil sie die Krimispannung fast nicht aushalten, zuerst die letzten Seiten lesen. Eine Möglichkeit, die einem der Beratungsprozess verwehrt, auch wenn manche Kund:innen einen verführen, doch zu erzählen, was nicht zu erzählen ist, was nämlich sein und nicht mehr sein wird, wenn man den Prozess beendet hat.