Wie wollen Sie Ihre Organisationseinheit steuern, nach dem Regelmodus oder nach dem Entscheidungsmodus?

11. Oktober 2017

Die Antwort auf diese Frage habe ich nicht unter 758 Worte geschafft – völlig twitter untauglich, sorry.
Auf den ersten Blick scheint diese Entweder-oder-Frage wenig hilfreich zu sein. Denn selbst da, wo genau geregelte Prozesse (z.B. das Starten und Landen eines Flugzeuges, der Produktionsablauf in der Automotivindustrie, ein medizinisches Diagnoseverfahren) Sicherheit und stabile Qualitäten sicherstellen müssen, treten unerwartete Ereignisse auf, ist mit Grauzonen, neuen Fragen und mit nicht vorhergesehenen Widersprüchen zu rechnen. Das sind alles Situationen, die nur per Entscheidung der Akteure vor Ort zu bewältigen sind. Andererseits kenne ich keine noch so auf Selbststeuerung, Selbstverantwortung, Autonomie, Flexibilität und Agilität ausgerichtete Organisation, die nicht (auch) klare Regelungen braucht, die über die allgemeinen Rahmenbedingungen hinausgehen.
Dennoch würde das naheliegende Sowohl-als-auch verschleiern, dass es sehr wohl um eine wichtige Richtungsentscheidung geht. Daher plädiere ich doch zu einem generalisierenden Entweder-oder (oder zumindest zu einem Mehr-oder-weniger). Erst die klare Ausrichtung hilft, viele Missverständnisse, Erwartungskonflikte und Fehlsteuerungen durch das Management zu vermeiden.
Jeder Modus hat andere Implikationen, erfordert andere Kompetenzen und Konsequenzen bei Abweichungen. Und erst recht würde ein Sowohl-als-auch eine umfangreiche Klärung erfordern, welcher Modus bei welchem Entscheidungsthema angewandt werden soll.
Und damit nicht immer wieder entschieden werden muss, wie den nun im konkreten Fall zu entscheiden ist genügt es zu wissen, welche Daumenregel in unserer Organisationseinheit gilt, wenn ein Dilemma auftritt: Striktes Einhalten von Regeln vor eigenständiger Entscheidung, weil uns z.B. sonst die Aufsichtsbehörde nach ihren Überprüfungen im Risikoranking abstuft (Problem von Banken bei der Kreditvergabe) oder vertrauen wir auf eigenständiges Entscheiden vor der Suche, nach welchen Regeln vorzugehen sei, weil der aktuelle Kundenwunsch gar nicht vorhergesehen werden konnte.
Naheliegend und (scheinbar) einfacher ist das Handeln nach dem Regelmodus, sind doch Organisation per se (sicherheitsstiftende) Regelsysteme – die aber (nicht erst heute) für ihr Funktionieren Nebenwege, informelle Abstimmungen, das Umgehen von Regeln, das kluge Als-ob erfordern.
Mit dem Primat der Kundenorientierung, der zunehmenden Komplexität und Marktdynamik, der Bewältigung von Unvorhersehbarem, der Forderung nach Agilität wurde deutlich, Vorhersagbarkeit, also Berechenbarkeit als Voraussetzung für das Handeln nach Regeln, hat sich drastisch reduziert.
Das weiß man alles, und in mehr und mehr Organisationen hat sich das Subsidiaritätsprinzip etabliert: Wo die Expertise ist, wo der Kontakt zum internen und externen Kunden gegeben ist, soll eigenverantwortlich entschieden werden. Ein Prinzip, das meist moralisch eingefordert, aber selten strukturell und kompetenzgemäß abgefedert wird. Man könnte sagen, kein Wunder, denn diese Verlagerung von Entscheidungskompetenz an die Peripherie der Organisation geht nicht ohne Irritation an den zentralen Einheiten und an den „Chiefs“ vorbei. Es gilt, ein neues Konfliktfeld zu managen.
Komplexer wird diese Verlagerung der zentralen und regelbasierten Entscheidungsmodi, wenn dafür sich selbst organisierende Einheiten oder Teams geschaffen werden. Das „Selbst“ verweist auf die Autonomie, der Begriff „organisierend“ auf Regeln und Strukturen. Auch wenn von solchen – sich selbst steuernden – Einheiten erwartet wird, dass sie eigenständig entscheiden, was gerade Sache und wie diese Sache zu bewältigen ist, müssen sie sich – um nicht immer wieder entscheiden zu müssen – selbst organisieren, also sich selber Regeln geben. Aus meiner Beobachtung zeigt sich, dass auch sich selbst organisierende Teams dazu tendieren – wie in der klassischen Linienorganisation auch – sich per Regeln den Stress (durch das Bewältigen von Unsicherheit und der Paradoxien) vom Leib zu halten. Das zentrale Thema ist daher, wie werden Entscheidungsgremien entscheidungsfähig. Wie gelingt es, eine Kommunikations- und Kooperationskultur zu entwickeln, die die Beteiligten einlädt, ihre unterschiedlichen Perspektiven mit Interesse und Klugheit zu prüfen, um daraus neue Erkenntnisse zu generieren? Wie schafft man jene „gemeinschaftliche Intelligenz durch Dialog“, die eine höhere Entscheidungsqualität, eine bessere Abwägung von Alternativen und bessere Einschätzung von Chancen und Risiken ermöglicht, ohne dass sie zu neuen ‚Zeitverzögerungsinstanzen‘ werden? An Methoden fehlt es nicht, an Erkenntnissen auch nicht, selbst der Wille ist meist wirklich vorhanden, allein die inneren Vorstellungen (Mindsets) und die eingeübten Muster sind stärker.
So musste z.B. in einem Produktionsunternehmen der Verpackungsindustrie im Kundenserviceteam (bestehend aus Qualitätsmanagement, technischem Kundendienst, Vertriebsverantwortlichem und Prozessverantwortlichem) die Grundregel eingeführt werden: Bei Reklamationen muss zuerst das Problem für den Kunden gelöst werden, damit dieser zeitnah seine Waren verpacken kann, bevor geklärt wird, wo mögliche Ursachen liegen  oder wer in der Prozesskette Mitverursacher (Schuldiger) war. Das Vernachlässigen der Kundeninteressen lag nicht an fehlenden Tools, sondern am Denken, wie vermeide ich es, den schwarzen Peter zugeschoben zu bekommen.
Soll der Entscheidungsmodus wirklich seine (theoretische) Qualität auch praktisch ausspielen, muss man einige Zeit die bestehende „Natur“ von Organisationen, Gruppen und Individuen gegen den Strich bürsten. Und man muss damit rechnen, dass sich die Haare aufstellen – so schön die Beispiele über die Wirkung von Integralen Organisationen, Soziokratie, Holocracy, Heterarchie und Selbstbestimmung auch klingen. Aber der evolutionäre Wandel könnte sich auszahlen.