Führungskräfte müssen authentisch sein – müssen sie?

7. Juni 2019

Eine kurze Reflexion incl. Empfehlung zu einer immer wieder erhobenen Forderung

In den Medien wird erneut diskutiert und konstatiert: „liebe CEO´s, CFO´s, Geschäftsführerinnen, Abteilungsleiter, Eure noch so ausgeklügelte Strategie wird Euch wenig nutzen, wenn Ihr nicht authentisch rüberkommt. Ihr werdet nur dann wirksam sein, wenn Ihr als authentisch erlebt werdet.“
So das aktuelle Mantra, belegt mit Umfragewerten. Besonders die jüngeren Mitarbeitenden seien da besonders aufmerksam und wenden sich frustriert ab („Ich lasse mich doch nicht verarschen“), wenn sie den Eindruck haben, es wird ihnen ein X für ein U vorgemacht.

Der Wunsch nach Orientierung und Verlässlichkeit nimmt zu

Natürlich, wenn Komplexität, Widersprüche und Ungewissheiten zunehmen, Orientierung nicht einfach zu haben ist, dann will man sich wenigstens auf seine relevanten „Gegenüber“ verlassen können. In Organisationen sind diese relevanten Gegenüber nun mal jene mit Führungsverantwortung. Eine Relevanz, die sich aus der speziellen Konstellation ergibt. Führung schafft rein strukturell eine Asymmetrie, ein Führen und Geführt-werden, ein Oben und Unten (das meine ich ganz ohne Vorwurf).  Daher erwartet jeder – auf welcher Stufe auch immer, dass sich die „Oben“ nicht nur als kompetent, sondern auch als würdig, als Glaub-würdig erweisen.

Man möchte – zu Recht – davon ausgehen, dass deren Aussagen, Versprechen nicht nur kompetenten Überlegungen folgen, sondern kongruent sind mit innerlichen Überzeugungen und Einsichten.

Im Widerspruch von Wunsch und Erfüllung

Ich empfehle auch bei dieser Thematik (siehe meinen letzten Blog zu New Work) die Kirche im Dorf zu lassen.

Denn, denn man kann nicht in dieses Innere unseres Gegenüber hineinsehen, man kann nicht sicherstellen, ob man nicht doch einem rhetorischen Kniff hereingefallen ist. Der oder die andere ist eine „Black Box“ (das ist man oft auch für sich selbst), daher sind wir dankbar für jede „Erhellung“, für jede Offenlegung, ohne je sicher sein zu können, jetzt, war das, wir gesehen und gehört haben, jetzt Wirklichkeit oder Zauberei.

Also zeigt uns, dass Ihr Authentizität in Eurem Repertoire habt.
Zeigt uns, dass Ihr diese magische Figur beherrscht, wir wollen davon verzaubert werden. Als rationale Menschen möchten wir ihn zugleich entlarven – weil es ja nur ein Trick ist – und hoffen, dass dieser wirken möge. Aus dieser Paradoxie gibt es kein Entkommen. Oder können wir doch von außen erkennen und gewiss sein, dass die Worte, die Versprechen, das Verhalten wirklich den inneren Vorstellungen, Überzeugungen entsprechen? Aber wie kommt es dann, dass man selbst vom Charisma eines XY beeindruckt ist und andere meinen, wir haben uns nur blenden lassen? Verlässlich ist das nicht gerade.

„… wie es da drinnen aussieht geht niemanden etwas an“.

Als Wiener kennt man die Operette „Land des Lächelns“ von Franz Lehar und das Lied des Prinzen Sou-Chong ‚Immer nur Lächeln‘. Ist das Täuschung oder ein erforderlicher Akt der Raison? Ist der Prinz deshalb weniger würdig, um an seine Worte zu glauben?

Authentizität soll die Lösung sein, aber für welches Problem?

In welchen Beziehungskonstellationen wird besonders deutlich wie sehr das eigene existenzielle Wohlbefinden vom anderen abhängig ist bzw. zu sein scheint? Mir fallen zwei ein, wenn Macht und/oder Liebe das Beziehungsspiel bestimmt, dann ist Angst nicht weit weg.
Kann ich mich auf die Worte, die Versprechen verlassen („Liebst Du mich wirklich?“, „Wird der Standort wirklich nicht geschlossen?“, „Können wir diesem hinreißenden Apell wirklich folgen?“). Das Wort „verlassen“ macht deutlich worum es geht und welche Emotionen das Denken beeinflussen.

Die Idee der Hierarchie hat dafür wirksame Beruhigungsmittel parat gehabt: „Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand“. Ganz ohne Ironie wurde damit auf die Einheit von Amt – Funktion – Person (ein Grundprinzip der Heiligen Ordnung) verwiesen und mit der allerhöchsten Instanz abgesichert. Diese Erzählung wird in den Wirtschaftsfeuilletons nachwievor (gegen jede Erfahrung) gepflegt und zugleich werden die Brüche und Abstürze der „Gottöbersten“ genussvoll zelebriert.

Was Hierarchie nicht mehr leistet, soll durch Authentizität gewährleistet werden.

Wie auch immer, auf dieses Organisationsprinzip ist trotz ausgefeilter Recruitingprozessen nicht mehr Verlass. Wenn schon dieser Dreiklang nicht mehr zu haben ist, soll Führung wenigstens authentisch sein.

Bevor wir freiwillig unsere „Gefolgschaft“ anbieten, wollen wir hinter die Person, hinter die Maske (= persona) schauen können. Führung soll geprüft werden. Sind die Aussagen ident mit den inneren Überzeugungen, Werten und ist er/sie daher wirklich „würdig, dass ich ihm/ihr glaube und mich auf die Abhängigkeit“ einlasse?

Mit diesen Fragen wird die Grundstruktur der Führung, das „Oben / Unten“ umgedreht. Die Situation der Experten – des Wirtschaftsprüfers, der Anästhesistin, des Zahnarztes, der Automechanikerin – ist daher eine völlig andere, da fragen wir nicht nach Authentizität, sonder schlicht nach Kompetenz. Kein Trost für ManagerInnen. Vielleicht nur diesen: hinter der Aufforderung „sei authentisch“ läuft immer auch die Hoffnung mit, dass dieser Aufforderung nur sehr beschränkt nachgekommen wird. Nicht einmal in einem geschützten Familientherapie-Setting wünschen sich die Beteiligten die völlige Offenlegung jener Gedanken und Gefühle, die man nur auf der Couch dem Analytiker verraten würde.

Führungskräfte sollen professionell ihre Aufgabe und die damit verbundene Rolle erfüllen

Dazu wird es kaum einen Einwand geben. Dennoch wird immer wieder das ‚Spielen einer Rolle‘  im Kontext von Führung kritisch hinterfragt und mit Manipultionsverdacht belegt.
Ich habe erlebt, wie ein Großteil der Führungscrew eines Technologieunternehmens ihren CEO als unglaubwürdigen Showman kritisierten, weil er die neue Strategie mit großem Enthusiasmus auf einer öffentlichen Führungskräftetagung präsentiert hat. Man wusste nämlich intern, dass er durchaus Zweifel hatte, ob man wirklich auf dem richtigen Weg sei. Diese Kritik übersah den Kontext der Veranstaltung, bei der auch Wirtschaftsjournalisten der Regionalzeitung anwesend waren. Was hätten diese geschrieben, welche Folgerungen hätten Analysten und Investoren gezogen, wenn er ganz authentisch – mit gebrochener Stimme und Seufzern – von seinen Zweifel gesprochen und verkündet hätte, uns ist einfach nichts Besseres eingefallen?

(Im Übrigen, bei einem späteren Führungs-Offsite haben er und seine Kollegen sehr wohl über ihre Unsicherheit reflektiert, was erneut bei einigen zur Irritation beigetragen hat.)

Es geht um Wirksamkeit. Auch moralisch oder ethisch noch so bedeutsame Anliegen müssen dem Kontext entsprechend vermittelt, „rübergebracht“ werden. Ist es wirklich so relevant zu erkennen, ob das professionelle Auftreten (die Art der Bewegung, der Einsatz der Stimme, Gestik und Mimik) oder das (immer nur zu vermutende) authentische Agieren das „Zielpublikum“ überzeugt und emotional berührt hat? Man sollte bei der Beurteilung von Glaubwürdigkeit nicht Inhalt und Form vermischen.
Warum sollte Professionalität nicht begeistern?

Wenn man schon auf Authentizität nicht verzichten will, dann plädiere ich für den Begriff:
>Professionelle Authentizität<

Professionell authentisches Handeln bringt die eigene Befindlichkeit, Werte, die eigenen Überzeugungen und Zweifel im Kontext der jeweiligen Rolle, der aktuellen Lage der Organisation und der Gegenüber zum Ausdruck.

Das Rollenspiel der Führung bewegt sich in einem Feld von Paradoxien, Ungewissheiten und Wahrscheinlichkeiten. Es erfordert Verhaltensvariationen die Beobachtern ermöglicht, von Ehrlichkeit, Offenheit, Vertrauenswürdigkeit zu sprechen. Zugleich weiß man als engagierter „Rollenspieler“, dass man diese Einschätzungen nicht erzwingen oder einfach herbeiführen, aber wahrscheinlicher machen kann. Man weiß, dass die Beobachter (Mitarbeiter*innen, Kolleg*innen, u.a.m.) mit sehr unterschiedlichen Interessenslagen und Erwartungen die „Auftritte und Inszenierungen“ bewerten werden.

Das lädt nicht zur Beliebigkeit ein, im Gegenteil:

Professionell authentische Führungskräfte verzichten zwar auf das Illusionsversprechen der Authentizität, sie verzichten aber nicht auf die kreative Inszenierung der Kommunikation, sie versuchen zu überzeugen und zu verführen und sind stets bereit, gewählte und nicht gewählte Alternativen offenzulegen, zu den eigenen Annahmen, Werten,  und Gefühlen befragbar zu sein und sie kalkulieren – möglichst ungekränkt – mit ein, dass mit der „Befragbarkeit“ das nächste Interpretationsspiel eröffnet wird.

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Die Inhalte meiner Blog-Serie sind Spots und Reflexionen zum Thema:
„Führen in der Ungewissheit – Mut zum Sowohl-als-auch“

Zum Autor:  Herbert Schober-Ehmer (Geschäftsführender Gesell­schafter im Redmont Consulting Cluster) ist systemischer Organisationsberater, Executive Coach und Autor. Er ist ein Doyen der Wiener Schule der Organisationsberatung, seit über 40 Jahren als Senior Consultant, Trainer, Coach und Lehrbeauftragter tätig. Weitere Artikel u.a. in changeX, Wissensmanagement,  Personal Manager.
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