Kritik irritiert – wie konstruktiv auch immer

25. August 2019

Vier Aspekte, warum man der Irritation kaum entgeht, auch wenn Kritik wichtig und gewollt ist + vier Lösungsschritte, wie man der Irritation fast entkommt.

Aspekt 1: die verdammten Affekte!
Mich irritiert Kritik, Sie nicht?
Mich irritiert Kritik nur dann nicht, wenn mir andere Perspektiven „wurscht“ sind (was jedoch selten vorkommt). Etwas weniger Irritation entsteht, wenn ich mit meinen Überlegungen noch nicht festgelegt bin, mich noch in einem Suchprozess befinde, mit Kolleginnen nur so vor mich hin assoziiere. Aber selbst da (im lockeren dahin konversieren) unterlaufen gewisse Affekte meine gedankliche Bereitschaft, über sachliche Kritik anderer klüger zu werden. Aufkeimender Ärger, der nicht nur dem Wunsch nach weiteren Erkenntnissen zuwider laufen, sondern auch Reaktionen gegenüber den Kritikern hervorrufen können, die dem Gesprächsprozesses nicht gerade förderlich sind. Die Affekte wirken, selbst wenn ich gewiss sein kann, dass die Kritik nicht mich als Person, als Mensch, sondern die geäußerten Gedanken adressiert.
Ich vermute, dass ich mich damit in guter Gesellschaft befinde; der kleine Narziss in uns lässt grüßen. Diese Reaktion scheint einfach „menschlich“ zu sein:
>Schließlich habe ich mich geoutet, Ein-Sicht in „meine“ Gedanken gewährt. Da diese zu „mir“ gehören, erhoffe ich (emotional) Zustimmung, Anerkennung, zumindest Verstehen.
Ich unterscheide hier Kritik, also die unmittelbare Bewertung meiner geäußerten Gedanken, von Feedback (im besten Sinn des Begriffes – einer Rückkoppelung: „bei mir lösen Deine Überlegungen folgende Gefühle und Bilder aus,…“) und der Darstellung einer anderen Perspektive („zu diesem Thema habe ich folgende Überlegungen, die sich von den Deinen darin unterscheiden, dass…“). Eine andere Perspektive lässt das Eigene als Option bestehen, lädt zum Vergleichen ein.
Kritik ist Korrektur, erwünscht oder unerwünscht, auf der Basis von richtig/falsch, passend/nicht passend. Man mag noch so aufgeklärt und an Kritik interessiert sein, bei einer Korrektur erzeugen die Körperaffekte eine abwehrende Resonanz. Da reicht es schön, wenn der Gesprächspartner seinen Satz mit dem Wörtchen „Nein“ beginnt – egal wie er es meint. 😉
Das heißt nicht auf Kritik zu verzichten, sondern mit dieser Affektlogik zu rechnen.

Aspekt 2: Die Frage der Berechtigung
Damit Kritik ihre konstruktive Wirkung entfalten kann, sollte man davon ausgehen, dass sie immer (!) legitim ist, denn sie beinhaltet genauso eigenständige Gedanken, Perspektiven, wie die kritisierten Überlegungen –  auch wenn sie möglicherweise an der Sache inhaltlich vorbei geht oder einer bestimmten Logik nicht entspricht.
Die Frage nach der Berechtigung vs. Nicht-Berechtigung fokussiert auf den sozialen, strukturellen Kontext und blendet den inhaltlichen vorübergehend aus. Mit dieser Unterscheidung kann man zwar den Diskurs abkürzen (die Komplexität reduzieren), denn es wird darauf verwiesen was „rechtens“ und „nicht rechtens“, also schon entschieden und nicht mehr zu bedenken ist. Aber es verhindert, dass neue Überlegungen bedenkenswert werden.
Über das Recht wird (unumgänglich) eine Asymmetrie konstituiert. Mit dem Hinweis, ob etwas berechtigt ist, wird der Aspekt der Macht ins Spiel gebracht. Die „Causa Finita“ erwartet keine weiteren Argumente, sondern schlicht die Anerkennung >so ist es<; die Unterwerfung. Das ist – ganz nüchtern betrachtet – die sowohl entlastende als auch immer störende Funktion hierarchisch gedachter Führung. Wer es sich leisten kann Kritik als ‚unberechtigt‘ zurückzuweisen, verzichtet für sich (möglicherweise auf Dauer) auf eine Lernchance. Umgekehrt gewährt er oder sie – bewusst und unbewusst – einen Einblick in das eigene Werteschema (was denn rechtens sei) und in die persönlichen Gefahren-, Angst- und Komfortzonen.

Aspekt 3: Der Mix aus Emotionen und Bewertungen
Der Kommunikationsprozess einer „wirklich offenen, konstruktiven Kritik“ kann sich nicht von der Dynamik der Aspekte 1 und 2 entkoppeln, wie gut trainiert ‚Kritikgeber‘ und ‚Kritiknehmer‘ in „non violent communication“, in Feedbackgesprächen, in der Unterscheidung von Beobachtung und Bewertung, im differenzierten beschreiben und wertschätzenden Umgang sie auch sein mögen.

Aspekt 4: Gewinner oder Verlierer  – Das Expertendilemma
Wenn Expert*innen mit anderen Expert*innen miteinander diskutieren, entgehen sie nicht der   emotionalen Dynamik, die sich aus der spezifischen Paradoxie dieser Struktur ergibt. Das Wissen darum erleichtert zumindest den Umgang damit.
Konkret: A stellt seine Überlegungen zur Disposition; um sie zu verbessern, vielleicht sogar zu verwerfen, bittet er B um konstruktive Kritik. A hat seine Überlegungen auf Basis seines Wissens, seiner Expertise entwickelt, sie ist Teil seiner ‚Experten-Identität‘, daher hofft er im (tiefen) Inneren um eine Bestätigung, Verstärkung, auch wenn er anderes einfordert (siehe Aspekt 1)  
B stellt, als konstruktiver Kritiker, seine Bewertungen ebenfalls auf Basis seines Wissens, seiner Expertise zur Verfügung, sie ist Teil seiner ‚Experten-Identität‘.
Ohne es eigentlich zu wollen, stehen sich A und B als Konkurrenten und mitunter rasch als Streitende gegenüber. Die Suche nach neuen Erkenntnissen wird von der Frage unterlaufen, wer ist Gewinner und wer ist Verlierer, wessen Argumente erschüttern die (Experten-) Gewissheit des anderen früher und stärker. Deshalb muss man sich auch „aus-einander-setzen“, das kann zwar durchaus Spaß machen, ist aber ein anderes Spiel, als das wozu eingeladen wurde.

Vier Lösungsschritte – so könnte es gehen
Da es emotional nicht einfach zu sein scheint, den Inhalt von der Person zu trennen und der Satz „ich meine ja nicht Dich als Ganzes, sondern diese Aussage von Dir“ zwar verstanden, aber nur bedingt gefühlt wird, können folgende „Maßnahmen“ – nennen Sie es Tipps – hilfreich sein:

  1. Die Gesprächspartner*innen vereinbaren explizit (!), sich als Suchende, Fragende, als gemeinsam Forschende zu begegnen. Beide erlauben sich, die Ungewissheit als Quelle zu nutzen, sie relativieren ihren Expertinnenstatus.
  2. Man vereinbart Gewissheiten und Annahmen wechselseitig befragbar zu machen und differenziert zu begründen.
  3. Die „Gefahr“ der Kränkbarkeit wird angesprochen, der Inhalt wird um die persönliche, emotionale Dimension erweitert (Teil der Reflexion im Gespräch).
  4. Es wird gezielt zwischen dem inhaltlichen, sozialen und zeitlichen Kontext unterschieden und Wechselwirkungen erwogen.
    Z.B. mit folgenden Fragen:
    Was wird sachlich, inhaltlich anders gesehen und wieso?
    Welche persönlichen Erfahrungen und Annahmen tragen und beeinflussen die inhaltlichen Überlegungen?
    Welchen Einfluss hat der jeweilige soziale Kontext auf die inhaltlichen Aspekte?
    Wie beeinflussen zeitliche Dimensionen (Dringlichkeiten, unterschiedliche Denkgeschwindigkeiten,…) die sachlichen Überlegungen?
    Klingt aufwendig, verspricht aber einen hohen inhaltlichen und sozialen Gewinn und vermeidet jene Verluste, die unvermeidlich sind, wenn sich Postionen ineinander verheddern, Argumentationsschleifen x-mal gezogen werden und der Kränkungswarenkorb mit jedem Satz weiter gefüllt wird.

Die Inhalte meiner Blog-Serie sind Spots und Reflexionen zum Thema:
„Führen in der Ungewissheit – Mut zum Sowohl-als-auch“

Zum Autor:Herbert Schober-Ehmer (Geschäftsführender Gesell­schafter im Redmont Consulting Cluster) ist systemischer Organisationsberater, Executive Coach und Autor. Er ist ein Doyen der Wiener Schule der Organisationsberatung, seit über 40 Jahren als Senior Consultant, Trainer, Coach und Lehrbeauftragter tätig. Weitere Artikel u.a. in changeX, Wissensmanagement,  Personal Manager.
Weitere Artikel finden Sie auch auf unserer Redmont Website: Lektüre