2 Tage Online-Seminar – kommunikative Zumutung? Nee, es hat Spaß gemacht

29. April 2020

Zwei Tage später, Samstag um 17:45h sind die Bildschirme wieder abgeschaltet. Alle sind mehr oder minder erschöpft, aber reich beschenkt und hoch zufrieden. Gemeinsames Staunen, was inhaltlich und im Miteinander möglich wird, wenn man bereit ist, sich neugierig auf ein Experiment, auf ein Abenteuer einzulassen.
16 Teilnehmende und zwei Seminarbegleiter*innen treffen einander am Freitag um 9:20h, statt im vertrauten Seminarort in Berlin, Online am Bildschirm. Es ist das 10. Modul im Rahmen eines Beraterinnenlehrgangs zum Thema „Changeprozesse begleiten“ – welch glücklicher Zufall.

Ein kurzer persönlicher Erfahrungsbericht

  • Wir entscheiden uns bewusst zum Experiment: trotz des ungewissen Ausgangs und obwohl wir nicht wissen (können), wie es uns in diesen beiden Tagen ergehen wird, lassen wir uns mit Lust und Engagement darauf ein.  Wir tragen es gemeinsam, die Verantwortung liegt nicht nur bei der Seminarleitung. Zugleich können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gewiss sein, sie werden mit interessanten Inputs incl. Unterlagen „versorgt“ und mit herausfordernden Fragen und Aufgaben konfrontiert.
  • Gemeinsam rechnen wir mit Problemen oder Pannen und sind gespannt, wie wir sie bewältigen werden.
  • Das Wissen um den experimentellen Charakter führt nicht zu einer entspannten Lässigkeit, sondern zu einer „liebevollen“ Achtsamkeit und Anspannung.
  • Die zeitlich und inhaltlich präzise Planung ist gekoppelt mit der Bereitschaft, uns spontan auf das Unvorhergesehene und auf befürchtete Pannen kreativ und ohne Panik einzulassen.

Mit dem ALS OB spielen

  • Auch wenn wir alle gut geübt sind, soziale Prozesse und gruppendynamische Herausforderungen „real-life“ zu gestalten, wissen wir nicht, was das „Als ob“ mit uns machen wird.
    Wir „tun also so, als ob wir gemeinsam im Plenum säßen“ und müssen in Wirklichkeit einen virtuellen Dialog führen. Wir „tun so als ob wir in Arbeitsgruppen gingen und später gemeinsam wieder zurückzukommen“, während jede, jeder unverändert allein vor seinem Bildschirm sitzt.
  • Unsere Erfahrung danach, man sollte dieses „Als ob“ inszenieren: z.b. die Teilnehmenden – bevor sie sich in einer Breakout Session wiederfinden – bitten, aufzustehen, sich kurz zu bewegen und sich erst dann hinzusetzten, wenn sie am Schirm sehen, mit wem sie jetzt die nächsten 30 Minuten kollaborieren werden. Genauso sollte man das Zurückholen (per Chat) ankündigen – sonst erleben die Gruppenmitglieder einen „brutalen“ Kommunikationsstopp.
  • Außerdem kommt der Körper dadurch etwas auf seine Rechnung – daher zwischendurch immer wieder spielerisch und körperbetont auflockern.

Agieren vs. sich disziplinieren

  • Meinungsverschiedenheit zwischen Teilnehmenden lassen sich kaum bearbeiten, ohne dass sich andere „abmelden“. „Triebunterdrückung“ ist gefordert, mit allen Vorteilen und Risiken. Selbst gesteuerte und Selbst verantwortete Telefonate in den Pausen können zur Klärung beitragen. Die Entscheidung, was bei Meinungsunterschieden angesagt ist, liegt dann bei der Leitung.

Kurze Sequenzen und genügend Pausen (!)

Das permanente Multitasking fordert seinen Tribut an Konzentration und Energie. Man „muss“ gleichzeitig auf den Inhalt, auf den Bildschirm, auf die Technik, auf den Chat, auf die Arbeit mit unterschiedlichen Tools, auf das Stummschalten und Lautschalten, auf die anderen Teilnehmenden UND auf sich selbst achten. Man ist  ja im Unterschied zur Face2Face Kommunikation mit dem eigenen Bild, der eigenen Mimik und Körpersprache konfrontiert. Das kennt man zwar aus Videokonferenzen, es wird nur in seiner Wirkung unterschätzt.

Im Plenum ab 10 TN sollten die Beiträge wirklich kurz gehalten werden, d.h. steuern mit präzisen Fragen, auf die Redezeit einwirken und dafür auch mal gemeinsam blödeln.

Einige Voraussetzungen:

Dass es in diesen zwei Tagen so gut geklappt hat, ist einigen spezifischen Faktoren zuzuschreiben:

  • die Gruppe kannte sich sehr gut, zentrale Konflikte oder Differenzen waren schon aufgearbeitet,
  • die Zusammenarbeit ist von Vertrauen untereinander und zu den beiden Seminarleitern getragen.
  • Seminarleiterin und Seminarleiter sind inhaltlich und emotional gut eingespielt.
  • Das Design wurde gemeinsam konzipiert und wenn erforderlich in den Pausen modifiziert,
  • zugleich gab es klare Fokusrollen, einerseits Vermittlung der Inhalte und anderseits Steuerung der technischen Prozesse.

Resümee:

Gemeinsame Lernprozesse können Online gut funktionieren. Auf Face2Face werden wir nicht verzichten (wollen).
Es werden mehr „hybride Formate“ (Digital und Analog) zum Einsatz kommen.
Seminar-Module können dann anders gestaltet werden, wenn die Teilnehmenden sich bereits kennen, einander vertrauen und konstruktive Muster der Kommunikation und Kollaboration entwickelt haben. Vertiefende Dialoge, interdisziplinäre Erkenntnisprozesse, Lernen an Fällen, an eigenen inneren Resonanzen und am Hier und Jetzt erfordern nachwievor ein gemeinsames Setting, ohne „Social (physical) Distancing“.