Leadership bei Gefahr und Risiko
4. Juni 2020
Das kluge Vergessen und das notwendige Erinnern – auch
jenseits von Covid19
Es zeugt von kluger Führung, den Modus ‚Gefahr‘ vom Modus ‚Risiko‘
zu unterscheiden. Das erhöht im ersten Schritt die Chance, der Situation gemäß
zu handeln.
Ereignisse aus dem Gefahrenmodus kommen „von außen“ auf uns
zu, Risiken muss man Eingehen, die Ereignisse sind Folgen unserer
Entscheidungen. Die Auswirkungen sind jeweils nicht einzuschätzen. So
konfrontieren beide Modi mit Ungewissheit, mit Nicht-Berechenbarkeit, mit
Gefühlen der Unsicherheit und auch Angst. Und dennoch muss Leadership „gezeigt“
werden, aber jeweils in anderer Form.
Leadership in Phasen der Gefahr.
Gefahren kann man der Umwelt (dem Schicksal) zurechnen, die
Ereignisse und die damit verbundenen Schäden haben nichts mit eigenem Tun, mit
persönlichem Verschulden zu tun. Das ist ein – vor allem für die
Krisenkommunikation – nicht zu unterschätzender, sozial entlastender Vorteil. Zugleich
„erzeugt“ die unberechenbare Gefahr eine irritierende Ambivalenz; da man
im ersten Augenblick nichts dagegen tun kann wird man von Entscheidungen
entlastet und das beruhigt.
Wenn es gelingt, die negativen Folgen einer ‚Gefahrensituation‘
zurechnen zu können, ist man als politischer oder unternehmerischer Verantwortlicher
aus dem Schneider. Erst später wird man sich fragen lassen müssen, ob man
schwache Signale übersehen oder negiert hat. Ob es sich doch um Berechenbares,
also um Risiken gehandelt hat, die erst zur Gefahr wurden, weil man diese nicht
beachtet hat.
Ist der Tsunami erst mal im Anrollen, breiten sich Viren
epidemisch aus, hat sich die Lawine erstmals gelöst, verhindert vor allem der
Faktor Zeit, mit den klassischen Instrumentarien der Analysen und Berechnungen
zu operieren. Es muss sofort gehandelt, es muss geschützt, geflohen, isoliert, die
Gefahr gebannt werden. Und zwar unmittelbar, eindeutig und „koste es, was es
wolle“.
Daher ist es sinnvoll zu „vergessen“, dass es immer viele Möglichkeiten gibt,
um Probleme zu lösen, daher ist es sinnvoll zu vergessen, nach welchen
Prämissen man in „normalen“ Zeiten entschieden und gehandelt hat. Die Ausnahme erfordert
auch zu vergessen, dass man Fragen stellen könnte, wie es denn möglich sei, Grundprinzipien
– auch die der Freiheit – außer Kraft zu setzen. Man muss es nur tun, durchsetzen,
zulassen, und zwar alternativlos.
Plötzlich dürfen, ja müssen Leader sagen, was sonst undenkbar wäre: „wir sehen
die Gefahr, aber wir wissen nicht, was es wirklich bedeutet und wir wissen
nicht, was richtig ist“. Das ist nicht nur legitim, sondern auch rational
begründbar, dass dieses >Nicht-Wissen-können< jeder
Berechenbarkeit die Grundlage „entzieht“.
An dessen Stelle müssen tief verankerte soziale
Wirkungsmechanismen reaktiviert und eingesetzt werden:
- Übernahme von Autorität, klare Anweisungen,
- Bereitschaft der Unterwerfung, wenn möglich auf
Basis des Vertrauens in die Führung zentraler Repräsentanten (ist diese nicht
gegeben, können Gefahren nur sehr schwer bewältigt werden),
- Erzeugen eines undifferenzierten
Gemeinschaftsgefühls.
Wenn das einzig Berechenbare das Unberechenbare ist (eine
irritierende Paradoxie), will man sich nicht zusätzlich mit der Unsicherheit
von Optionen beschäftigen. Es ist schon hilfreich genug, die Gefahr zu
fokussieren und ihr einen Namen geben zu können. Das erlaubt entsprechenden
Expertinnen und Experten zu sagen, was nun zu tun, was zu unterlassen wäre.
Von der Gefahrensituation in den Modus der Risiken.
Werden Gefahren mehr und mehr ‚durchschaubar‘, abwägbar, begrenzbar,
differenzierbar und damit ein Stück berechenbar, sollten Steuerungs- und
Führungsmethoden wirksam werden, die dem Risikomodus entsprechen. Ein
Unterschied, der einen Unterschied macht.
Schon der Begriff Risiko-Management macht deutlich, man hat es nun mit Situationen
zu tun, die über Optionen, Selektionen, Wahrscheinlichkeiten und Kausalitäten
erfasst, die auf Entscheidungen zurückgerechnet werden können. Jetzt sollte der
Blick auf die Welt voller Möglichkeiten und deren vielschichtigen
Zusammenhängen gerichtet, jetzt sollte analysiert und Alternativen geprüft
werden. Erst der Risikomodus erlaubt und erfordert die Engführung auf die
Phänomene der Gefahr wieder aufzulösen und die Vielschichtigkeit des Lebens –
die sozialen, psychologischen, wirtschaftlichen, ethischen, …Dimensionen – in
den Blick zu nehmen und als weite Basis für Entscheidungen zu nutzen.
Die Stunde der Freiheit ist zurückgekehrt.
Leadership im Risiko-Modus
Erneut ist der Faktor Zeit bedeutend, jetzt muss nicht
sofort gehandelt werden, man kann wieder den Blick auf vielschichtige
Zusammenhänge öffnen; Alternativlosigkeit gilt nun nicht mehr. Leadership
muss wieder seine inhaltlichen und sozialen Grenzen erkennen, statt weiterhin
mit Vorgaben / Verordnungen zu operieren, müssen unterschiedliche Perspektiven
und Widersprüche genutzt, Entscheidungen befragbar und argumentativ begründet werden.
Das mag Leadern, nach der Phase der Gefahr, nicht so sehr gefallen, wann kann
man sich schon wieder als Held erleben? Da kann die Verführung schon groß sein,
weiterhin den Gefahrenmodus zu suggerieren, aus dem nur sie und ihre Lösungen
herausführen können.
Und die Geführten, Geschützten, Geretteten sollten sich weder weiterhin führen,
„von oben“ täuschen und Angst einjagen lassen, noch aus dem Übermut des „Davongekommen-Seins“
das wirkungsvolle Gefahrenmanagement relativieren oder besserwisserisch kritisieren.
Das neue Normale
Jetzt können wir uns wieder daran erinnern, dass erst das Abenteuer des Diskurses, der konstruktive Streit, der suchende Dialog Krisen und deren Risiken bewältigen kann.
Ich hoffe – nun wieder im Kontext von Corona – dass wir nicht einfach zu den alten Mustern zurückkehren, sondern uns bei der Gestaltung der neuen Normalität erinnern, dass es „einst“ möglich war, Prinzipien, Denkmodelle, Überzeugungen radikal neu zu bewerten und anders zu handeln.
Zugleich wünsche ich mir einen kreativen Dialog zwischen Wirtschaft und Politik – für mutige, innovative Wege, um die großen Gefahren, die sich mit der Klimaentwicklung mehr als deutlich abzeichnen, mit neuen Risikokonzepten gerade noch rechtzeitig bannen zu können.