Achtung Wirkungen haben Nebenwirkungen!

9. Juli 2021

Neue Konzepte lustvoll wagen – mit klarem Blick, OHNE Illusionen.

In meinem letzten Blog „Sog der Illusionen“ habe ich dafür plädiert, bei aller Begeisterung für neue Paradigmen des Organisierens, die Nebenwirkungen nicht zu übersehen. Das soll nicht von der Umsetzung abhalten, sondern nachträgliche Enttäuschungen und Ernüchterungen minimieren. UND – wenn man Nebenwirkungen schon vorweg vermuten kann, „Auffangmaßnahmen“ im Realisierungsprozess integrieren.

Also, einen nüchternen Blick bewahren. Das ist rational gut gemeint, trifft aber leider (auch aus eigener Erfahrung) nicht die wirkenden Emotionen, irritiert kaum die die positiven Versprechungen (man nennt das kognitive Dissonanz). Der Hinweis auf nicht erwünschte oder unerwartete Nebenwirkungen stört die Sehnsucht nach Gewissheit – mit diesem Konzept sind wir doch auf dem richtigen Weg, oder doch nicht?

Das Sicherheitsbedürfnis ist ein mächtiger Attraktor. Dieses (ver-)führt oft zu Verschleierungen, zu Umfärbungen, zu Verzerrungen der Wirklichkeiten. Man glaubt allzu gern den Versprechen, mit agil oder Purpose Driven oder mit Selbstorganisation oder mit Holakratie, oder, oder …, könne man alle Probleme einer unberechenbaren, komplexen Welt lösen; könne die Organisation mit begeisterten und engagierten Akteur:innen sinnvoll ihren Zweck erfüllen, Kunden und Stakeholder zufrieden stellen und gesellschaftlich verantwortungsvoll handeln. Kann das gehen?

Das Dilemma der Ambivalenz

Aus meiner Beobachtung werden in Organisationen seit geraumer Zeit „paradoxe Wirkungsverhältnisse“ verhandelt. Einerseits lernt man gerade mehr oder minder mühevoll, dass managen, dass miteinander arbeiten, kommunizieren, entscheiden, also dass soziale Prozesse und Mitarbeiter:innen verdammt dynamisch und eigenwillig sind und sich nicht wie Maschinen berechnen, kontrollieren und steuern lassen. Man lernt, sich von stabilen und berechenbaren Organisationsmetaphern (Zahnräder, …) zu verabschieden und agile, organische Formen zu entwickeln. Das macht die Unternehmen tatsächlich anpassungs- und zukunftsfähiger. Und gleichzeitig werden nach wie vor von Aufsichtsrät:innen, Investor:innen, Umweltbewegungen, Kund:innen eindeutige, widerspruchsfreie Aussagen (in ihrem Interesse) erwartet. Es gibt sie nicht.

Ambivalenzen und Widersprüche gehören zum Leben (jeder Organisation).

Ein erstes ‚Achtung‘:

Konzepte sind Konzepte sind Konzepte. Konzepte sind Landkarten, Guides, die dann hilfreich sind, wenn man sie nicht mit der Landschaft, das Konzept nicht mit dem Leben verwechselt. Das Bett des Prokrustes, hat noch niemandem gut getan, der darin zum Liegen kam. (Ich kenne nun leider schon einige Beispiele und Untersuchungen, die aufzeigen, dass z.B. Holakratie das Management und die Mitarbeiterschaft mehr erschöpft als beflügelt hat.) Die nicht erwünschten Nebenwirkungen des holakratischen Organisationsmodells (von Brian Robertson) entstehen aus der immanenten Logik des umfassenden zentralen Regelwerks. Es verspricht zwar die Aufhebung von Hierarchie und persönlichen Machtansprüchen, daher können die Aufgaben, Rollen und Kreise durch einen klar definierten Prozess der Beteiligung (Software gestützt) schnell an verändernde Bedingungen angepasst werden. Das gilt aber nur dann, wenn die holakratischen Prinzipien nicht berührt werden. Da ist es aus mit der Flexibilität. Das ist insofern verständlich, weil diese Prinzipien verhindern sollen, dass sich hierarchische oder personengetriebene Mechanismen in die Organisation einschleichen.
Wirkung und unerwünschte Nebenwirkung: Die „Freiheit im Alltag“ wird um den Preis der Macht des Regelwerkes ‚erkauft‘.

Der konsequente Fokus auf Rollen und das Entkoppeln der Emotionen von persönlichen Aspekten (es dürfen! nur jene Emotionen in die Kommunikation eingebracht werden, die sich aus Spannungen der Rolle ableiten lassen) soll sachliche Entscheidungsprozesse ermöglichen. Die Nebenwirkungen sind zahlreich: Streit darüber, ob eine Emotion berechtigt oder nicht berechtigt ist, emotionale „Verdauungsbeschwerden“, indirekte Machtspiele, Vorverhandlungen im informellen Raum, der eigentlich gar nicht vorgesehen ist, u.a.m.
Oder: das eine richtige Konzept wird sich immer als unpassend zur Vielfalt des Lebendigen erweisen. 

Ein zweites ‚Achtung‘:

Das zweite Achtung verweist auf den – leider unscharfen – Begriff Selbstorganisation (er markiert künstlich eine Besonderheit, denn jede Organisation muss sich selbst organisieren, es ist nur die Frage nach welchen Prinzipien).

Der Hype entstand aus dem Versprechen, Selbstorganisation bedeute: weniger Hierarchie, weniger Silo, mehr Interdisziplinarität, weniger strikte Regeln, mehr Entscheidungsexpertise am jeweiligen „Fall“. Durch Selbstorganisation soll eine umfangreiche Koppelung sichergestellt werden: ein Koppeln von Wissen, worum es geht, mit dem Wollen einen Beitrag leisten zu dürfen, mit dem Können und den dazu erforderlichen Kompetenzen und Ressourcen und, damit es nicht unverbindlich bleibt, mit dem Müssen (zu entscheiden und zu handeln).

Das „Müssen“ wird jedoch öfter verschwiegen, obwohl keine Organisation ohne klare und sanktionierbare Verbindlichkeiten auskommt. Die Einzelnen sind nicht frei, ob sie etwas tun oder nicht oder wann sie eine Aufgabe abschließen, sie sind in eine Wertschöpfungskette eingebunden, es muss geliefert werden. Das WIE kann – je Thema, Aufgabe, Funktion frei – aber den Qualitätskriterien entsprechend  gestaltet werden. Der zentrale Unterschied in sgn. selbstorganisierten Strukturen liegt in der Option, über Kriterien, Prozesse und Regeln in bestimmten Verfahren (z.b in Kreisen) mitgestalten, mitentscheiden zu können. Und das ist schon eine ganze Menge.

Die Nebenwirkungen: das kostet Zeit, erfordert Reflexion und das Übernehmen von Steuerungs- und Führungsverantwortung. Konflikte zu managen oder Entscheidungsprozesse zu gestalten sind zusätzliche Aufgaben ‚jenseits‘ der fachlichen Herausforderungen, die nicht für jeden als Segen von New Work erlebt werden.

Selbstorganisation braucht Teams und so wunderbar und befriedigend Teamarbeit und Teamsteuerung auch ist, da lauert schon die nächste Nebenwirkung: die emotionalen Dynamiken in Gruppen. Dazu mehr im nächsten Blog.