Wer – Was – Wann – Wozu? Frag nach beim ‚Purpose‘– oder wo sonst?
10. März 2019
Herausforderungen und Widersprüche nehmen zu, Ungewissheiten prägen den Alltag, Chefs habe selbst oft mehr Fragen als Antworten. Selbstverantwortung wird gefordert - nur woran soll man sich orientieren?
Eine alte Idee mit neuem Titel soll es richten:
Alle verstehen worum es eigentlich geht, was der Zweck des Unternehmens, seine inhaltliche Absicht ist; UND alle finden das cool, super, spannend. Der Purpose wirkt. Vor allem, wenn der etwas nüchterne Zweck mit emotionalem SINN aufgeladen wird und über Selbstorganisation und Agilität die Organisationen gesteuert und getrieben werden. Das hat was, keine Frage! Und ich persönlich möchte auch: „an eine Welt »sinn-voller« Organisationen glauben, die ihre Entscheidungen an einem Purpose orientieren, der über reine Gewinnmaximierung hinausgeht. Wo Mitarbeitende jeden Tag mit Begeisterung und Engagement an Dingen arbeiten, die für sie selbst, für die Organisation, deren Kundinnen und die Gesellschaft Sinn und Wert stiften“
(So Franziska Fink und Michael Möller ihr sehr lesenswertes Buch „Purpose driven Organisation“).
Kann dieses Konzept sein Versprechen halten, was ist der Preis und was bieten nachwievor sgn. „traditionelle“ Konzepte der Unternehmensführung?
An Hand folgender Überschriften habe ich meine Gedanken dazu strukturiert:
– die Krux des Purpose
– die Klugheit und die Kosten der Differenzierung
– mehr Vernunft und Rationalität
– ein Blick auf die realen Verhältnisse
– die VUKA-Welt jedoch…
– die Lösung im „Sowohl-als-auch“ finden
Die Krux des Purpose
Klar, wenn man weiß, worauf ES ankommt, muss man nicht nach Vorschriften, Regeln oder Chefs fragen, was zu tun sei, wenn Ungewissheiten, Mehrdeutigkeiten das Feld kennzeichnen.
Das kann jedoch nur dann so funktioniert, wenn man (?) den EINEN Sinn, das EINE Besondere, die vereinigende Idee gefunden, kreiert hat, unter der sich alle versammeln können, um an dem einen richtigen Strang zu ziehen. Ich wähle diese Begriffe durchaus mit Absicht, denn in der Purpose-Idee steckt ein altes Heilsversprechen, eine vormoderne, romantische, sehr verständliche und zugleich gefährliche Vorstellung von der EINEN Identität. Es wundert mich daher nicht, wenn manche Diktionen moralisch, irgendwie religiös und wie aus der Zeit – der modernen, ökonomisch orientierten Unternehmen – gefallen klingen. Soll hier ein altes Sehnsuchtsversprechen erfüllt werden?
Die Klugheit und die Kosten der Differenzierung
Eine weitere Krux wird deutlich, wenn man die Strukturidee von Organisationen (und der modernen Gesellschaft) in den Blick nimmt; die Idee und gelebte Praxis der >funktionalen Differenzierung<. Der Wunsch ist die Einheit, das Problem ist die Differenz. Dabei wird übersehen, das diese erst die Leistungsfähigkeit moderner Unternehmen und deren Optimierungsdynamik ermöglicht. Damit ein Unternehmen seinen Zweck (ohne Purpose ging es ohnedies nie) erfüllen kann, muss es wissen, was Kunden und der Markt so wollen, wie man Produkte entwickelt, herstellt, vertreibt und all das gewinnorientiert finanziert (das 1 x 1 der BWL). Um diesen – unausweichlich differenten –Erfordernissen entsprechen zu können, werden die dazu erforderlichen Aufgaben und Kompetenzen (Vertrieb, Marketing, Einkauf und Logistik, Produktion, F&E, Finanz, IT, Personal) organisatorisch in Funktionsbereichen abgebildet. Wohl wissend und gewollt, dass sie ihre unterschiedlichen Logiken (und Sprachen) ausbilden. Was so selbstverständlich klingt, ist die wirklich geniale Erfindung der modernen Organisation, die es Unternehmen erst ermöglicht, über den Handwerks – oder Start Up -Modus hinauszugehen.
Mit der Einführung dieser strukturellen Unterscheidungen kann jede Logik – vorerst unabhängig von der anderen – optimiert werden. Man weiß in seiner Funktionseinheit – aber meist nur in dieser – worauf ES ankommt. Im Rahmen eines Unternehmens macht diese Optimierung nur in Bezug aufeinander Sinn, was sowohl Kooperation erzwingt und zugleich Konkurrenz beflügelt. Sie kennen sicher solche Sätze: „wir wissen genau was unsere Kunden brauchen, wenn nur die Qualität der Produktion mithalten könnte“, „Wir haben den Produktionsprozess bis an seine Grenzen optimiert, wenn nur der Einkauf die zeitgerechten Lieferungen sicherstellen würde und der Vertrieb mehr um die Qualität unserer Produkte wüsste“ usw., usw.). Darin liegt die spezifische Herausforderung, die Konkurrenten sind im Rahmen der Organisation auf einander angewiesen und das beflügelt den Konflikt mit zwei Wirkungen: die Problemverursacher werden in der jeweils anderen Funktion verortet, zugleich achtet das jeweilige Management darauf, den eigenen Bereich weiter zu verbessern.
Was will ein Unternehmen mehr?
Vernunft und Rationalität, wenig Streit und dass nicht das Übergewicht einer Funktion den Gesamterfolg gefährdet! Die Dynamik der Funktionalen Differenzierung erzeugt jedoch andere Konfliktmuster, so wie oben angedeutet.
Nur, die Einsicht in die wechselseitigen Abhängigkeiten und Verknüpfung der Unterschiede (ohne diese aufzuheben) ist ohne Konflikte nicht zu haben. Deshalb hat das Topmanagement als übergeordnete Instanz – klug mit General-Management tituliert – für diese ‚Ganzheitliche Perspektive‘ zu sorgen. Die in vielen Unternehmen etablierte Doppelverantwortung (incl. spezifische Bonifikationen) sowohl für die jeweilige (eine) Funktion als auch für das gesamte Unternehmen, unterläuft oft die Realisierung dieser Erwartung.
Ein Blick auf die realen Verhältnisse
Aus meinen Beobachtungen sind Vorstands- oder Geschäftsleitungsmeetings im besten Fall ein Ort für ein kreatives Austarieren von Argumenten, Interessensgegensätzen, Paradoxien und Kalkülen. Im schlechtesten Fall erlebt man ein „Hauen und Stechen“ versehen mit dem Mäntelchen rationaler Begründungen und meistens bewegen sich die Repräsentanten der Funktionslogiken in einer Verhandlungsarena, um Kompromisse zu erzielen und dabei – zur Vorbereitung für das nächste Spiel – zu beobachten, wer und was sich wie durchsetzt.
Selbst dort, wo es „oben“ gelungen ist, die Differenzen für eine neue Gesamtperspektive zu nutzen, muss man damit rechnen, dass weiter „unten“ die Funktionslogiken und Fachsprachen unbeeindruckt ihre Wirksamkeit entfalten. Und manchmal ist es genau umgekehrt: um handlungsfähig zu bleiben und die täglichen Aufgaben erfüllen zu können, überwinden die Fachexperten über persönliche Beziehung die Bereichsgrenzen. So funktionieren eben Organisationen.
Die VUKA – Welt jedoch…
…mit ihrer Komplexität, Widersprüchlichkeit und rasanten Anforderungen zwingen Unternehmen jenseits der standardisierten und digitalisierten Produkte und Serviceleistungen immer wieder zu neue Antworten der Kunden, Märkte, Lieferanten. Die jeweils verantwortlichen Mitarbeiter*innen können immer seltener darauf warten, ob sie von Oben klare Orientierung für ihr unmittelbares Handeln geliefert bekommen. Sie müssen rasch antwortfähig sein, die Probleme selbst in die Hand nehmen; der Begriff Selbstverantwortung (und alle damit verbundenen Erwartungen und Irritationen) hat in jedem Unternehmen Einzug gefunden. Um diese ‚Zu-Mutung‘ bewältigen zu können, brauchen die Akteure Orientierungsrahmen, sicherheitsstiftende Prinzipien, die einerseits konkret und andererseits allgemein genug sind, um auf Unvorhersehbares, Ungewisses reagieren zu können. Diese unvermeidbare Paradoxie – Halte dich an die Vorgaben / handle eigenständig – hat in den letzten Jahren unterschiedliche Formen der Steuerung und Führung hervorgebracht.
Das Konzept der „Purpose driven Organisation“ verspricht nun, wie sowohl die zentrifugierenden Konflikte unterschiedlicher Funktionslogiken und anderer Interessen „befriedet“ werden können und wie durch eine überzeugende Erzählung, die sich Sinnorientierung nennt, die Handlungsfähigkeit und Eigenverantwortung sichergestellt werden kann. Denn: wenn alle den Sinn erkannt haben, wovon das Unternehmen seine Daseinsberechtigung ableitet, diesen verstehen, sich voll damit identifizieren können (an ihn glauben!), können auch berechtigte, aber stets irritierende Interessensdifferenzen durch das Einschwören(!) auf einen Sinn ausgeglichen werden. Endlich wird der Slogan „Wir sitzen alle in einem Boot“ zur Realität. Welch eine Entlastung für die Führungskräfte.
Gibt es noch ein Aber? Leider ja – der Kreis kehrt zur Krux der „Einheit“, des EINEN Sinns zurück. Siehe oben. Auf den Purpose also verzichten? Den von mir so skizzierten „Teufelskreis“ kann man durch ein Sowohl-als-auch entkommen.
Die Lösung in einem Sowohl-als-auch suchen
Erstens, sowohl die Vielfalt, die Unterschiede schätzen und nutzen:
Das hieße, zu akzeptieren und sich zu freuen, dass sich Menschen und Funktionsverantwortliche voneinander unterscheiden und daher jede Ausrichtung und die daraus abgeleitete Bewertung zunächst nur eine unter vielen ist. Es macht einen entscheidenden Unterschied, von welcher Perspektive aus man das Unternehmen und seine Umwelt betrachtet. Eine moderne Gesellschaft und eine in ihr handelnde Organisation zeichnen sich dadurch aus, dass alles (Strategie, Produkte, Verfahren,…) auch anders sein könnte. Wenn man sich von Richtig–Falsch (ich spreche hier nicht von Mathematik oder Recht) verabschieden muss, dann sollte man mit der Haltung von Neugier und Stauen das Geschehen, die Handlungen und Reaktionen erstmals beobachten und mit Gelassenheit versuchen, sie zu verstehen. Und es gilt zu akzeptieren: Es könnte von jedem Punkt aus auch woandershin weitergehen. Beunruhigend ist das nur dann, wenn man hofft, von der der Last der Entscheidung und der damit verbundenen Verantwortung ein wenig entlastet zu werden. Das alte Thema Freiheit vs. Sicherheit. Es gibt nicht die eine einzige und schon gar die eine einzige RICHTIGE Lösung, die richtige Organisation, den einen richtigen SINN, den einen Purpose, von dem aus die sinngesteuerte Vernunft durch das Unternehmen wandert.
Zweitens, Als-auch‘ den verbindenden Sinn gemeinsam erzeugen:
Wenn man die Idee, Organisationen über den Purpose „zu treiben und zu steuern“ als einen kommunikativen VERSUCH verstehen darf, wird sich der fundamentalistische Geruch verziehen. Dann wird es richtig spannen, wie die Vielfalt und Differenz von Ideen, Meinungen und Positionen aufeinander SINNORIENTIERT bezogen werden kann. Diese Versuche – so sie denn wirklich als dialogische Versuche konzipiert werden – können mit Hilfe des SINNs als ELEMENT zwischen den Funktionsunterschieden das Unternehmen klüger machen. Die unterschiedlichen Funktionslogiken würden sich dann, sowohl im Diskurs als auch am Purpose bewähren müssen. Dann wären moralische oder rationale Argumente nur eine der möglichen Perspektiven, die andere nicht ersticken kann. Und im Konfliktfall bleibt sichtbar, was im Ent-Scheiden ausgeschlossen wurde, um es bei veränderten Einsichten wieder einschließen zu können.
Die Inhalte meiner Blog-Serie sind Spots und Reflexionen zum Thema:
„Führen in der Ungewissheit – Mut zum Sowohl-als-auch“
Zum Autor:
Herbert Schober-Ehmer (Geschäftsführender Gesellschafter im Redmont Consulting Cluster) ist systemischer Organisationsberater, Executive Coach und Autor. Er ist ein Doyen der Wiener Schule der Organisationsberatung, seit über 40 Jahren als Senior Consultant, Trainer, Coach und Lehrbeauftragter tätig. Weitere Artikel u.a. in changeX, Wissensmanagement, Personal Manager.
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