Ungewissheit vs. Gewissheit – feindliche Brüder oder fröhliche Geschwister?
21. Juli 2019
Wenn Sie wandern und bergsteigen und sich teilweise
mit Wanderkarten im freien Gelände bewegen, werden Sie möglicherweise – so wie
ich – folgende Situation auch schon erlebt haben:
Wir stehen im steindurchsetzten steilen
Almgelände, checken Gelände und Karte und merken, es stimmt was nicht, sind wir blöd oder
die Karte daneben? Wo ist diese Felsnase, an der wir hätten rechts aufsteigen
müssen? Auch nach der Tourenbeschreibung sollten wir hier abzweigen, aber das
passt mit der Felsformation nicht zusammen. Haben
wir vorher was übersehen, oder müssen wir noch hundert Meter weiter gehen?
Wenn es doch nur um die Abstimmung vom „Konkreten und Abstrakten“ ginge, tut es aber nicht. Denn selbst die Landschaft ist nicht einfach die Landschaft, mein Freund und ich nehmen die Felsformationen auch noch unterschiedlich war. Was tun? Wir hatten uns doch gut vorbereitet, die Landkarte studiert, den Guide genau gelesen, und jetzt wissen wir nicht, wie es weiter geht. Zum Glück spielt das Wetter noch mit.
Ungewissheit sucht nach Gewissheiten.
Daher machen wir Pläne, bauen Modelle, lesen Prognosen
und glauben, dass diese zur aktuellen
Wirklichkeit passen und genügend Orientierung bieten werden. Da wir uns mit
Komplexität und Agilität beschäftigt haben, wissen wir auch, dass wir glauben und nur so tun, als ob wir
„evidenzbasiertes“ Wissen besäßen. Wir wissen, das „Als ob“ wirkt wie Magie, es
löst blockierende Zweifel auf. Was sonst, wir wollen und müssen handeln.
Das erklärt mir ein seltsames Phänomen:
niemand würde die Landkarte mit der Landschaft verwechseln, diese
Unterscheidung haben wir gelernt. Businesspläne werden (meist) jedoch anders bewertet,
vor allem, wenn Abweichungen auftreten. Dann wird „vergessen“, dass der Plan
bloß ein Stück Papier, eine Powerpointfolie und nicht das pralle Wirtschaftsleben
ist. Dann werden die Planer dafür kritisiert, was zu ihrem ureigensten Job
gehört; nämlich zu entscheiden, was relevant und nicht relevant ist, was zu
berücksichtigen sei und ausgelassen werden muss, damit ein Modell, ein Plan,
eine Landkarte erstellt werden kann.
Abgesehen von Abenteurern wollen die meisten
von uns Ungewissheiten (im modernen Jargon die Komplexität) zu Gewissheiten
wandeln. Also suchen wir nach einfachen Erklärungen, Modellen, Abbildungen, Berechnungen.
Ein Prozess, der notwendigerweise vieles aus- und unberücksichtigt lassen muss.
Die Logik des Planungsprozesses zwingt auf die Vielfalt, den Reichtum an
Möglichkeiten zu verzichten, damit Planen möglich wird. Komplexe Verhältnisse
können zwar als dynamische Prozesse (in Simulationen) abgebildet werden;
entziehen sich jedoch länger gültigen „eindeutigen Formulierungen“; sie sind
der verstehenden Analyse, wie der Igel dem Hasen, stets voraus.
Das Problem wird erst deutlich, wenn auf Grund der Reduktion Ereignisse auftauchen,
die man dann als das Unerwartete definiert.
Gewissheiten finden wir über hybride Strukturen – über das Sowohl-als-auch Prinzip.
Das bedeutet, sich auf neue Verknüpfungen von Planen,
sich beobachtend Einlassen, gut strukturiertem Erproben und mutigen Experimentieren,
einzulassen. Der Begriff ‚Einlassen‘ gibt einen Hinweis auf das erforderliche
Mindset, das auf ein technisches, lineares, auf Perfektion ausgerichtetes
Verständnis von Steuerung zu Gunsten eines iterativen, kommunikativen Prozesses
verzichtet.
Es geht um die Fähigkeit ‚Lernen zu lernen‘. Ein Lernen, dass angesichts von Neuem, Überraschendem, Unvorhergesehenem nicht ins Stocken gerät, sondern das weiß, jetzt „endet“ das Nach-Denken in alten Mustern und Überzeugungen, jetzt beginnt das Entdecken neuer Möglichkeiten. Die Abweichungen vom Plan, von den Szenarien werden herzlich begrüßt, sie sind ein Geschenk der Erkenntnis.
Planen und sich mutig auf das unbekannte Terrain einzulassen werden durch ‚hybride Managementprozesse‘ zu Verbündeten.
Genußvolles Lernen, das Vergnügen am Entdecken, der Spaß am Miteinander sind dann fast garantiert.
Die Inhalte meiner Blog-Serie sind Spots und Reflexionen zum Thema:
„Führen in der Ungewissheit – Mut zum
Sowohl-als-auch“
Zum Autor:Herbert Schober-Ehmer (Geschäftsführender Gesellschafter im Redmont
Consulting Cluster) ist systemischer Organisationsberater, Executive Coach und
Autor. Er ist ein Doyen der Wiener Schule der Organisationsberatung, seit über
40 Jahren als Senior Consultant, Trainer, Coach und Lehrbeauftragter tätig.
Weitere Artikel u.a. in changeX, Wissensmanagement,
Personal
Manager.
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